Viele Menschen äußern Sorge über die gegenwärtige politische Situation in Deutschland und der Welt. Die Kriege in der Ukraine und in Gaza, die demokratische Kultur und die wirtschaftliche und soziale Situation im Inland belasten die Menschen, auch solche, die sich sonst eher weniger über Politik Gedanken gemacht haben. Wie gehen wir mit dem ganzen Chaos in der Welt um, das gefühlt seit Corona nicht mehr aufhören will?
Bevor wir uns dieser Frage zuwenden können, ist es wichtig sich zu fragen: bin ich bereit, mich selbst als Teil des Chaos zu sehen, das ich außen sehe? Oder hänge ich an der Vorstellung, ich sei doch im Grunde friedliebend und vernünftig, und die bösen Machthaber und die undemokratischen Kräfte sind da draußen? Wenn ich mich selbst aus dem, was in der Welt geschieht, herausrechne, mache ich es mir einfach. Ich tue so, als habe Polititk nur etwas mit Politikern und Parteien zu tun. Doch in Wirklichkeit ist Politik ein Aspekt des Lebens, der uns alle betrifft, und jeder nimmt dazu auf die ein oder andere Weise Stellung. Dies anzuerkennen, ist der erste Schritt auf dem Weg, sich wirklich mit dem Chaos in der Welt zu befassen. Politik hat mit Macht zu tun und Macht ist etwas, das wir alle haben. Ich habe eine gewisse Macht über mich selbst, meine Gedanken, Gefühle und Handlungen. Ich habe einen gewissen Einfluss darauf, wie ich mit meinem Körper umgehe, mit meiner Zeit und natürlich auch mit wie ich mit anderen Menschen umgehe. So wie ich die Macht habe, mich zu verletzen oder zu schonen, habe ich die Macht, andere zu verletzen oder zu schonen, Ich kann aufmerksam oder achtlos, interessiert oder gleichgültig auf andere zugehen. Macht ist mir gegeben. Ich kann meine Macht verantwortlich und einfühlsam oder rücksichtslos und egoistisch einsetzen. Die große Politik da draußen ist also nur ein Spielfeld der Macht. Die Phänomene der großen Politik erscheinen uns weit weg, doch in Wirklichkeit sind sie ganz nah. Denn die Politik da draußen ist nur ein Spiegelbild der Politik in uns und umgekehrt. Ein Beispiel: In uns selbst gibt es Meinungsverschiedenheiten. Ich habe vielleicht den Wunsch, mehr für meine Gesundheit zu tun, aber wenn ich abends von der Arbeit nach Hause komme, bin ich zu müde. Dann sagt die eine Stimme „Geh joggen“, die andere sagt „Nein, das ist mir zu viel“. Die beiden Stimmen streiten und machen sich Vorwürfe. „Du bist ein Schweinehund, deinetwegen werden wir immer träger“. Da sagt die andere Seite „Und du bist ein ewiger Antreiber, ein Perfektionist und Spaßverderber“. Was da in mir geschieht, ist also ein Kampf um Macht und Einfluss. Keine der Seiten will nachgeben. In meiner Psyche und damit auch in meinem Körper tobt ein Machtkampf. Es wird mit allen Tricks gearbeitet. Erst wird es mit Manipulation und Bestechung probiert: „Du kriegst auch ein Bierchen nachher, wenn du dich jetzt zum Training aufraffst.“ Dann versucht man es mit Gehirnwäsche: „Du willst es doch selbst, du fühlst dich doch nicht wohl, wenn du jetzt faul auf der Couch herumliegst.“ Und schließlich geht man zu Zwang und Disziplinierung über: „Ich melde uns jetzt zum Fitnessstudio an, das kostet richtig viel, dann müssen wir mindestens zweimal die Woche was machen, hörst du?“ So wie es in mir Machtkämpfe gibt, so gibt es da draußen Machtkämpfe. In Arbeitsteams, im Kirchengemeinderat, in Eigentümersammlungen, Mitgliederversammlungen oder Bürgerinitiativen und natürlich auch im Landesparlament, im Bundestag und auf der Bühne der internationalen Politik. Überall wo es Menschen gibt, gibt es auch Differenzen und damit auch Machtfragen: Wie begegnet die Macht der einen Stimme der Macht der anderen, abweichenden Stimme? Wie begegnen sich die Unterschiede in mir und wie begegnen sich die Menschen in ihren Unterschieden? Nun gibt es eine lange Geschichte, in der sich politische Systeme entwickelt und verändert haben. Jedes System hat die Machtfrage anders beantwortet. In einer Monarchie ist die Macht anders verteilt als in einer Demokratie. Aber selbst wenn wir demokratische Systeme betrachten, gibt es unter ihnen beträchtliche Unterschiede. „Die Demokratie“ gibt es nicht. Auch in mir gibt es eine Geschichte, wie ich mit meiner Macht umgehe. In der Schule war ich vielleicht schüchtern, später wurde ich selbstbewusster beim Vertreten meiner Interessen. Vielleicht habe ich einmal achtlos Gewalt ausgeübt und daraus gelernt. Vielleicht habe ich mich für meinen Beruf, für meine Familie, für Geld aufgeopfert und alle inneren Zweifel brutal beiseite geschoben, so lange, bis es in mir eine Oppositionspartei aufstand und die Regierung stürzte. Wenn wir also vom Chaos in der Welt sprechen, dann tun wir das, weil wir das, was gerade geschieht, vor dem Hintergrund unserer ganz eigenen Vorstellungen und Werte für unnormal, unnatürlich oder unmenschlich halten. Wir sind jedoch Teil der Situation, die wir kritisieren. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir uns selbst als „gut“ und „richtig“ und andere als „böse“ und „falsch“ bezeichnen. Es mag ja sein, dass da Chaos ist. Ich kann das gut nachfühlen. Doch der Grund für das Chaos liegt nicht nur da draußen, er liegt in mir und in uns. Der Psychoanalytiker C. G. Jung spricht hier vom Schatten, den wir alle in uns tragen, dem verdrängten Unbewussten in uns. Wenn wir nicht lernen, unsere eigenen Schattenseiten wahrzunehmen und im bewussten inneren Dialog zu wandeln, dann sind wir gezwungen, diesen Schatten auf andere Menschen und Situationen zu projizieren und ihn dort zu bekämpfen. Denn was kann ich tun, wenn das eigentliche Problem, die Ursache für das Chaos, beim andern liegt - bei einem bösen Dikator, einem autoritären System, einer extremen Partei, einer machthungrigen Elite? Ich kann nichts tun, und diese Ohnmacht ist es denn auch, die die Grundlage für alle Strategien abgibt, das Chaos in Ordnung zu bringen. Wenn „der andere“ schuld ist, dann fühle ich mich in meiner Ohnmacht gerechtfertigt, „den anderen“ zu verurteilen, ihn auszugrenzen oder zu bekämpfen. Der heilige Krieg wird immer von denen geführt, die sich vorher selbst heilig gesprochen haben. Das hat der amerikanische Dichter Charles Bukowski bereits 1966 in seinem Gedicht „The Genius of the Crowd“ auf den Punkt gebracht: „Und am besten morden die, die den Mord verdammen, Und am besten hassen die, die Liebe predigen, Und den besten Krieg führen am Ende die, die den Frieden predigen.“ Wir finden dasselbe Muster: Verdrängung des eigenen Schattens, Projektion des Schattens auf andere und Bekämpfung des Schattens im anderen - nicht nur in der Politik und im gesellschaftlichen Leben. Im privaten und beruflichen Leben ist es ähnlich. Auch hier führt die Betrachtung, das Problem liege beim anderen und nur beim anderen, zur Ohnmacht, die wiederum die Grundlage für den angstvollen Rückzug oder den „heiligen Krieg“ gegen den Schuldigen ist. Wenn die Ehe zerbricht, ist der egoistische Mann oder die egoistische Frau schuld, im Beruf ist der manipulative Chef oder der intrigante Kollege schuld. Wenn uns etwas Schmerzhaftes widerfährt, haben wir das intensive Bedürfnis, jemanden schuldig zu sprechen. Wenn dich also beim nächsten Mal das Chaos in der Welt überwältigt und dir Sorgen macht, dann halte einmal inne. Vielleicht ist es ja gut, wenn wir das Chaos einmal als solches wahrnehmen, statt es wie früher zu verdrängen. Denn es ist ja nicht so, dass es vor Corona, Ukraine und Gaza keine Gewalt und Not gegeben hätte auf der Welt. Sehen wir also einmal die Tatsache, dass wir das Chaos erkennen und uns daran stören, als ein Signal des Aufmerkens und Aufwachens. Dann sind wir vielleicht motiviert, die Schuld nicht nur außen zu suchen, sondern uns auch selbst zu fragen: Was ist mein eigener Beitrag zum Chaos in der Welt? Die Gedanken, die ich denke, die Gefühle, denen ich Raum geben, die Energien und Handlungen, die ich in die Welt setze - wie wirkt das alles in dieses Chaos hinein? Habe ich wirklich nichts mit dem zu tun, was da draußen geschieht? Und wenn wir bei dieser Frage ratlos aus der Wäsche schauen, unwillig den Kopf schütteln oder zerstreut nach dem Handy greifen, dann finden wir vielleicht in dieser Reaktion einen Hinweis darauf, warum das Chaos nach so langer Zeit immer noch da ist. Kommentare sind geschlossen.
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Guido Ingendaay
Ich schreibe zu persönlichen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Themen. Die gemeinsame Perspektive ist das authentische Leben, das die Möglichkeiten innerer Entfaltung, echter Begegnung und Gemeinschaftlichkeit erforscht. Mehr zu mir finden Sie hier.
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September 2024
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