Manche Menschen leben ihr Leben wie im Transitbereich eines Flughafens. Sie sind gerade aus einem Flugzeug ausgestiegen und wandern in den Wartebereich, bis ihr Anschlussflug ausgerufen wird. Im Transitbereich gibt es bequeme Stühle, die Menschen lesen, hören Musik, kaufen etwas Nutzloses ein oder erledigen Emails. Manche sind hektisch, betriebsam und effektiv, andere überlassen sich dem Gang der Dinge. Vor allem aber: man wartet auf den nächsten Flug, unruhig und träge zugleich. Man wartet darauf, dass es endlich passiert. Es, das ist das Leben, das Glück, die Erfüllung.
In Wirklichkeit findet das Leben nicht im Transitbereich zwischen Vergangenheit und Zukunft statt, sondern in dem Raum, in dem wir jetzt leben. Das ist der einzige Raum, den wir je hatten und je haben werden. Dieser Raum ist bereits das Ziel, der Ort der ultimativen Ankunft. Wo sonst sollten wir ankommen, wenn nicht genau an diesen Ort zu dieser Zeit? Ankommen heißt: mir schwirrt nicht der Kopf von dem, was ich vor 5 Minuten, 3 Tagen oder 30 Jahren erlebt habe. Und es heißt: ich fühle mich nicht getrieben, „weiterzukommen“, mich „zu entwickeln“ und „was zu erreichen“. Ich bin einfach da, offen und verfügbar für das, was jetzt geschieht, innen wie außen. Ich lebe. Wahrscheinlich hast du diese Gegenwärtigkeit schon einmal erlebt, spontan und ohne Vorbereitung. Der Anblick einer Blume hat dir die Sprache verschlagen und für einen Moment stand das Leben still. Der Glanz eines Wassertropfens im Sonnenlicht oder der Wind in den Blättern hat dich einkehren lassen in diesen Raum der Gegenwart. Ein zeitloser Moment der Berührung, des Ausatmens, der Freude. Und dann zerbricht der Zauber so einfach, wie er gekommen ist und enttäuscht fühlst du dich zurückkatapultiert in den Strom der Zeitreisenden, die ihr Leben im Transitbereich führen. Dann beklagst du dich: zugegeben, das Glück in der Gegenwart gibt es, ja, aber es ist so flüchtig! Doch stimmt das wirklich? Vielleicht ist nicht die Gegenwart flüchtig, sondern wir. Vielleicht sind wir Zeitflüchtlinge, ruhelose Nomaden, die verlernt haben anzukommen. Wenden wir uns doch dieser verlernten Kunst zu, der Kunst, in der Gegenwart zu leben. Es ist dies jedoch nicht die Gegenwart als Transitbereich zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern ein Gegenwart jenseits der Zeit. In dieser zeitlosen Gegenwart sind Vergangenheit und Zukunft nicht völlig unbekannt, aber sie spielen eine untergeordnete Rolle. Sie sind als Denkoperationen in die Gegenwart integriert, denn manchmal ist es praktisch, sich zu erinnern, was gewesen ist, und sich vorstellen zu können, was passieren könnte. Abgesehen davon, ist die Gegenwart einfach ein zeitloser Raum des Seins, des echten Lebens. Hier und jetzt spielt die Musik. Oder sie spielt gar nicht. |
Guido Ingendaay
Ich schreibe zu persönlichen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Themen. Die gemeinsame Perspektive ist das authentische Leben, das die Möglichkeiten innerer Entfaltung, echter Begegnung und Gemeinschaftlichkeit erforscht. Mehr zu mir finden Sie hier.
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November 2024
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