Wie soll ich das alles bloß schaffen? Das ist ein typischer Satz von Menschen, die sich in ihrem Alltag unter Druck fühlen. Sie machen Listen und bemühen sich, doch nie reichen ihre Bemühungen aus. Es gibt immer noch etwas zu tun, etwas zu erledigen, etwas zu schaffen. Gibt es einen Ausweg aus der Selbstüberforderung? Was brauchen wir, um ein gelasseneres und freieres Leben zu führen? Darum soll es jetzt gehen.
Wie soll ich das alles bloß schaffen? Wer so spricht, fühlt sich unter Druck. Einige fahren den Turbo hoch und kämpfen mit den Widrigkeiten, um „alles zu schaffen“. Andere fühlen sich so überwältigt davon, dass sie in Starre und Passivität verfallen oder sich mit den neusten Emails ablenken. Wie soll ich das alles bloß schaffen? Atemlosigkeit und der Druck im Brustkorb sind spürbar. Der Stress, der in der Frage steckt, zeigt, dass hier an der Wurzel etwas nicht stimmt. Die Frage ist so gestellt, dass sie nur Stress erzeugen kann: „Wie soll ich das bloß alles schaffen?“ Jedes einzelne Wort enthält ein Problem. Fangen wir mit dem „soll“ an. „Soll“ suggeriert eine unumstößliche Notwendigkeit, einen Auftrag, über den nicht mehr diskutiert werden kann. Warum „soll“, warum nicht „will“ oder „kann“? Nein, es muss ein „soll“ sein! Da ist die erste Enge, die erste Bedrängnis. Dem „Soll“ folgt dann das Problem mit „Wie“. Wie soll ich das alles bloß schaffen? Es geht nicht darum, ob ich soll, ob der Anspruch wirklich gerechtfertigt ist, sondern nur noch wie ich ihm genügen kann. Da ist die nächste Enge. Gehen wir weiter. Wie soll ich das alles bloß schaffen? Hier geht es darum, alles schaffen zu sollen, nicht nur etwas, nicht nur das Wesentliche oder das Mögliche, sonders uneingeschränkt alles. Hier liegt die Gefahr einer Überforderung, denn „alles“ ist doch sehr viel. Warum will ich denn unbedingt „alles“ schaffen? Warum ist so wichtig daran? Und was bedeutet „alles“, ist „alles“ nicht ein bisschen viel? Aber wir sind noch nicht am Ende der Reise, denn es kommt da noch das Wort „schaffen“. Wie soll ich das alles bloß schaffen? Was heißt „schaffen“? Es hat eine doppelte Bedeutung. Es kann heißen: schöpferisch sein. Und es kann heißen: etwas erledigen, machen. Die Frage „Wie kann ich das alles bloß schaffen?“ ist keine Frage nach unserer Schöpferkraft, sondern spricht den Macher in uns an. Man kann zum Beispiel eine Arbeit schaffen, also erledigen. Aber kann man in diesem Sinne auch Beziehungen schaffen, Liebe schaffen, Leichtigkeit schaffen, Frieden schaffen? Nein. Denn vieles im Leben ist überhaupt nicht schaffbar. Beziehungen wollen entwickelt und gepflegt werden, Sinn will entdeckt und gelebt werden, Kooperation will erprobt und vertieft werden. Das alles kann gar nicht geschafft werden, weil wir zu einem guten Leben vieles andere über bloßes Schaffen hinaus brauchen. Das Leben ist doch sehr viel mehr als das, was es darin zu machen und zu schaffen gibt. Im Leben geht es doch sicher auch darum, etwas zu erleben, zu fühlen, zu entdecken, wahrzunehmen, zuzulassen, anzunehmen oder zu gestalten. Wie soll ich das alles bloß schaffen? Dieser Satz erzeugt also mit jedem Wort Spannung, Verengung und Druck, und wenn er nicht hinterfragt wird, treibt er uns dazu an, über unsere Grenzen zu gehen und uns im blinden Erfüllen von Normen zu verlieren. Wie soll ich das bloß alles schaffen - schließlich erzeugt dieser Satz das Gefühl des Mangels, er legt nahe, dass jetzt etwas nicht in Ordnung ist, dass das Leben erst dann, wenn alles geschafft ist, als gut und richtig empfunden werden kann. Folgen wir doch einmal dieser Spur. Wie ist es denn jetzt? Fehlt dir jetzt etwas? Wenn du tatsächlich das Gefühl hast, dass dir jetzt etwas fehlt, dann fühle es doch einfach mal. Formuliere für dein Mangelgefühl nicht gleich einen rationalen Grund. Und erzähle dir auch nicht gleich die Geschichte, dass du dieses Gefühl, dass dir etwas fehlt, loswerden müsstest. Fühle einfach, dass dir etwas fehlt. Zum Beispiel: Mir fehlt es, dass ich diese Arbeit erledigt habe. Mir fehlt es, dass es harmonisch ist zwischen uns. Mir fehlt es, dass es aufgeräumt ist. Mir fehlt es, dass dieses Problem gelöst ist. Geh erst einmal zurück zu diesem Gefühl des Mangels und vergiss die Geschichte darum herum. Wie fühlt es sich an, wenn du dieses Gefühl erst einmal bei dir ankommen lässt?. Du darfst ein Mensch sein, dem gerade etwas fehlt oder der meint, es fehle ihm etwas gut. Gut, dann bist du jemand, dem gerade etwas fehlt. Du wirst vielleicht wirklich nicht „das alles“ schaffen. Wenn du die Unmöglichkeit, alles schaffen zu sollen, akzeptierst, wird etwas von der Anspannung weichen. Und du kannst entdecken: Es gibt vielleicht etwas Einfaches und Naheliegendes, das du ja durchaus tun kannst. Etwas, das dich nicht stresst, etwas, das möglich und sinnvoll ist, das du gerne geben kannst, ohne dass es dich zerreißt. Nimm dir Zeit. Du brauchst Zeit dafür zu erspüren, was hier und jetzt möglich ist und was nicht. Ich versteh schon, da ist ganz vieles, was du noch nicht erledigt hast. Es ist mir schon klar. Aber wenn schon! Vielleicht gibt es tatsächlich gerade wenig Zeit, Energie, Motivation oder Hilfe. Wenn das so ist, kannst du es auch nicht erzwingen. Auch wenn du dich unter Druck setzt, dich antreibst, die Vorwürfe wegen deines Aufschiebens machst, wirst du doch nichts daran ändern, dass nicht alles zu schaffen ist. Doch das wird nicht akzeptiert, dagegen mobilisiert sich Widerstand. Ich muss das schaffen, es muss doch gehen, andere schaffen es doch auch. Das Selbstverständnis, das sich hier zeigt, ist das eines Menschen, der sich und sein Leben im Griff haben will, der sich optimal organisieren und funktionieren zu müssen glaubt, und der sich deswegen auch disziplinieren und regulieren muss. Denn es muss ja funktionieren, es muss ja klappen. Das Selbstverständnis des organisierten Menschen ist unserer Kultur vorherrschend. Ein Großteil unseres öffentlichen, privaten und beruflichen Lebens dreht sich darum, uns und unser Leben möglichst effizient zu organisieren, doch mit diesem allumfassenden Organisationsanspruch treiben wir dem Leben seine Schönheit aus, seine Leichtigkeit, seinen Glanz und seinen Zauber. Irgendwann merken wir dann, dass wir in diesem Zustand des getriebenen, ruhelosen, gehetzten Organisierens unsere Mitte verloren und anderen Menschen nichts mehr zu geben haben, dass wir das Vibrieren in uns und zwischen nicht mehr spüren, die Lebendigkeit, die Freude. Und dann organisieren wir auch das wieder und sagen: Ich muss es schaffen, dass ich dir mehr Qualitätszeit gebe. „Qualitätszeit“ heißt: Ich versuche das Wertvolle des Lebens zu organisieren. Das geht nicht. Wenn das Wertvolle des Lebens entdeckt werden will, muss das Organisieren losgelassen werden. Solange das Selbstverständnis des organisierten Menschen an der Macht ist, werden wir uns in uns ungenügend und wertlos fühlen und deswegen immer wieder unter Druck setzen, um unseren Wert in der Anpassung und im Funktionieren zu finden. Wir werden ein Leben der Selbstbeherrschung und der Selbstunterdrückung, ja der Selbstverleugnung führen. Der organisierte Mensch ist sich selbst entfremdet. Sein Leben ist widernatürlich und unlebendig, weil der organisierte Mensch sich selbst fortwährend außerhalb seines eigenen Lebens stellt und sich einen Plan macht, wie das Leben sein sollte, wie das Leben sein müsste und wie das Leben auf keinen Fall sein darf. Und dann geht die Energie des organisierten Menschen in dieses Sollen, Müssen, Planen, Schaffen und schließlich, weil das Leben sich dann doch nicht zwingen lässt, ins Kämpfen und auch ins Bekämpfen, denn alles, was dann nicht passt, muss ja bekämpft werden. Alles was in mir nicht passt, muss bekämpft werden, und alles was beim anderen nicht passt, muss bekämpft werden. Und so wird in der Schule der Schüler bekämpft vom Lehrer, wenn er nicht so lernt, wie er soll. Bei der Arbeit wird der Mitarbeiter von seinem Kollegen bekämpft, wenn er nicht so viel leistet, wie er soll. In der Beziehung wird der Partner bekämpft, wenn er nicht so viel gibt, wie er soll. Überall wird gekämpft. Und Grund für diesen Kampf ist: Ich will doch nur alles schaffen. Wenn alles geschafft ist, wird doch bestimmt alles gut sein. Das Selbstverständnis des organisierten Menschen führt uns in die Irre, es hat uns bereits in die Irre geführt, und zwar nicht erst seit gestern. Wir haben es tief verinnerlicht, wir geben es von Generation zu Generation weiter. Es ist ein verzerrtes Bild des Menschen von sich selbst. Der Mensch hat gelernt, sich selbst zum Objekt zu machen, sich auf eine äußere Funktion zu reduzieren und sich dem System, das er erschaffen hat, anzupassen. Die Steigerung dieser Mentalität haben wir zuletzt in der Corona-Zeit erlebt, als die ganze Gesellschaft in ein System zur Bekämpfung eines Virus transformiert wurde. Das Recht jedes Menschen, mit seinem eigenen Leben nach eigenem Ermessen umzugehen, wurde über Jahre eingeschränkt. Wir dürfen es aber nicht auf die äußeren Institutionen schieben. Denn alle Tendenzen übermäßiger Kontrolle, wie wir sie in übergriffigen Gesundheitsmaßnahmen oder digitaler Massenüberwachung beobachten können, finden wir auch in uns selbst. Weil wir innen bereit sind, uns selbst zu organisieren, erzeugen wir außen Systeme der Organisation, in denen der Mensch nur noch funktionieren soll. Wir haben uns zum Gefängniswächter unserer selbst gemacht. Wir haben uns ein Gefängnis geschaffen und wir überwachen uns, damit wir bloß nicht entkommen. Und wer sitzt in diesem Gefängnis? Das freie, lebendige, verletzliche, sich nach Beziehung, Schönheit und Sinn sehnende Wesen, das wir sind. Du musst mir nicht glauben, ich will dich nicht überzeugen. Ich habe keine Angst davor, dass du mir nicht zustimmst. Ich sage: Mach doch, was du willst. Mach doch, was DU willst, was du wirklich willst, wozu du wirklich ja sagen kannst. Und das ist etwas anderes als das, was du denkst, das du tun solltest. Von dem Gedanken an das, was du solltest, wirst du verfolgt. Von dem Gedanken an das, wozu du wirklich ja sagen kannst, wirst du getragen, wirst du gewärmt, genährt, inspiriert. Und du findest das, wozu du wirklich ja sagen kannst, wenn du wieder lernst, von dir selbst auszugehen, statt den Normen des organisierten Lebens zu folgen. Wie soll ich das alles bloß schaffen? Du darfst innehalten. Du musst es nicht schaffen. Du darfst dein Leben in die Hand nehmen und dich erneuern lassen vom Leben, in jedem Augenblick neu, du darfst lieben und geliebt werden. Du darfst Freude empfinden und du darfst warten. Du darfst auch Schmerzen haben und Krankheit. Denn du darfst auch sterben, du darfst irgendwann auch gehen. Das Leben ist kein Problem, sondern ein Geheimnis. Nimm dir Zeit zu realisieren, dass du vieles nicht weißt. Wir wissen so vieles nicht. Wir stehen dem Leben als Unwissende gegenüber, und das macht uns so große Angst, dass wir eigenmächtig das Leben nach unseren Vorstellungen definieren, um es dann organiseren und kontrollieren zu können. Die Verrückten der Welt, die nach der totalen Kontrolle des Lebens streben, werden erst dann aufhören damit, wenn Menschen aufwachen und merken, dass sie diese Verrückten auch in sich selbst haben. Wir haben sie nur deswegen da draußen, weil wir sie so stark in uns haben. Es ist unmöglich, sie da draußen zu stoppen, solange wir sie noch in uns haben. Hör auf, dich zu organiseren und organisieren zu lassen. Du darfst von dir selbst ausgehen, von deiner subjektiven Perspektive auf das Leben. Schau nach innen, schau nach außen, halte inne. Erkenne Realitäten an, akzeptiere, was du nicht ändern kannst, finde die Freiräume, die offenen Türen, die Gelegenheiten des Augenblicks, triff deine eigenen Entscheidungen. Mach deine eigenen Fehler. Statt „Wie soll ich das alles bloß schaffen?“ darfst du fragen: „Was ist jetzt? Was brauche ich, was brauchen andere? Wohin will ich meine Aufmerksamkeit, meine Kraft und meine Liebe jetzt geben?“ Viele Menschen äußern Sorge über die gegenwärtige politische Situation in Deutschland und der Welt. Die Kriege in der Ukraine und in Gaza, die demokratische Kultur und die wirtschaftliche und soziale Situation im Inland belasten die Menschen, auch solche, die sich sonst eher weniger über Politik Gedanken gemacht haben. Wie gehen wir mit dem ganzen Chaos in der Welt um, das gefühlt seit Corona nicht mehr aufhören will?
Bevor wir uns dieser Frage zuwenden können, ist es wichtig sich zu fragen: bin ich bereit, mich selbst als Teil des Chaos zu sehen, das ich außen sehe? Oder hänge ich an der Vorstellung, ich sei doch im Grunde friedliebend und vernünftig, und die bösen Machthaber und die undemokratischen Kräfte sind da draußen? Wenn ich mich selbst aus dem, was in der Welt geschieht, herausrechne, mache ich es mir einfach. Ich tue so, als habe Polititk nur etwas mit Politikern und Parteien zu tun. Doch in Wirklichkeit ist Politik ein Aspekt des Lebens, der uns alle betrifft, und jeder nimmt dazu auf die ein oder andere Weise Stellung. Dies anzuerkennen, ist der erste Schritt auf dem Weg, sich wirklich mit dem Chaos in der Welt zu befassen. Politik hat mit Macht zu tun und Macht ist etwas, das wir alle haben. Ich habe eine gewisse Macht über mich selbst, meine Gedanken, Gefühle und Handlungen. Ich habe einen gewissen Einfluss darauf, wie ich mit meinem Körper umgehe, mit meiner Zeit und natürlich auch mit wie ich mit anderen Menschen umgehe. So wie ich die Macht habe, mich zu verletzen oder zu schonen, habe ich die Macht, andere zu verletzen oder zu schonen, Ich kann aufmerksam oder achtlos, interessiert oder gleichgültig auf andere zugehen. Macht ist mir gegeben. Ich kann meine Macht verantwortlich und einfühlsam oder rücksichtslos und egoistisch einsetzen. Die große Politik da draußen ist also nur ein Spielfeld der Macht. Die Phänomene der großen Politik erscheinen uns weit weg, doch in Wirklichkeit sind sie ganz nah. Denn die Politik da draußen ist nur ein Spiegelbild der Politik in uns und umgekehrt. Ein Beispiel: In uns selbst gibt es Meinungsverschiedenheiten. Ich habe vielleicht den Wunsch, mehr für meine Gesundheit zu tun, aber wenn ich abends von der Arbeit nach Hause komme, bin ich zu müde. Dann sagt die eine Stimme „Geh joggen“, die andere sagt „Nein, das ist mir zu viel“. Die beiden Stimmen streiten und machen sich Vorwürfe. „Du bist ein Schweinehund, deinetwegen werden wir immer träger“. Da sagt die andere Seite „Und du bist ein ewiger Antreiber, ein Perfektionist und Spaßverderber“. Was da in mir geschieht, ist also ein Kampf um Macht und Einfluss. Keine der Seiten will nachgeben. In meiner Psyche und damit auch in meinem Körper tobt ein Machtkampf. Es wird mit allen Tricks gearbeitet. Erst wird es mit Manipulation und Bestechung probiert: „Du kriegst auch ein Bierchen nachher, wenn du dich jetzt zum Training aufraffst.“ Dann versucht man es mit Gehirnwäsche: „Du willst es doch selbst, du fühlst dich doch nicht wohl, wenn du jetzt faul auf der Couch herumliegst.“ Und schließlich geht man zu Zwang und Disziplinierung über: „Ich melde uns jetzt zum Fitnessstudio an, das kostet richtig viel, dann müssen wir mindestens zweimal die Woche was machen, hörst du?“ So wie es in mir Machtkämpfe gibt, so gibt es da draußen Machtkämpfe. In Arbeitsteams, im Kirchengemeinderat, in Eigentümersammlungen, Mitgliederversammlungen oder Bürgerinitiativen und natürlich auch im Landesparlament, im Bundestag und auf der Bühne der internationalen Politik. Überall wo es Menschen gibt, gibt es auch Differenzen und damit auch Machtfragen: Wie begegnet die Macht der einen Stimme der Macht der anderen, abweichenden Stimme? Wie begegnen sich die Unterschiede in mir und wie begegnen sich die Menschen in ihren Unterschieden? Nun gibt es eine lange Geschichte, in der sich politische Systeme entwickelt und verändert haben. Jedes System hat die Machtfrage anders beantwortet. In einer Monarchie ist die Macht anders verteilt als in einer Demokratie. Aber selbst wenn wir demokratische Systeme betrachten, gibt es unter ihnen beträchtliche Unterschiede. „Die Demokratie“ gibt es nicht. Auch in mir gibt es eine Geschichte, wie ich mit meiner Macht umgehe. In der Schule war ich vielleicht schüchtern, später wurde ich selbstbewusster beim Vertreten meiner Interessen. Vielleicht habe ich einmal achtlos Gewalt ausgeübt und daraus gelernt. Vielleicht habe ich mich für meinen Beruf, für meine Familie, für Geld aufgeopfert und alle inneren Zweifel brutal beiseite geschoben, so lange, bis es in mir eine Oppositionspartei aufstand und die Regierung stürzte. Wenn wir also vom Chaos in der Welt sprechen, dann tun wir das, weil wir das, was gerade geschieht, vor dem Hintergrund unserer ganz eigenen Vorstellungen und Werte für unnormal, unnatürlich oder unmenschlich halten. Wir sind jedoch Teil der Situation, die wir kritisieren. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir uns selbst als „gut“ und „richtig“ und andere als „böse“ und „falsch“ bezeichnen. Es mag ja sein, dass da Chaos ist. Ich kann das gut nachfühlen. Doch der Grund für das Chaos liegt nicht nur da draußen, er liegt in mir und in uns. Der Psychoanalytiker C. G. Jung spricht hier vom Schatten, den wir alle in uns tragen, dem verdrängten Unbewussten in uns. Wenn wir nicht lernen, unsere eigenen Schattenseiten wahrzunehmen und im bewussten inneren Dialog zu wandeln, dann sind wir gezwungen, diesen Schatten auf andere Menschen und Situationen zu projizieren und ihn dort zu bekämpfen. Denn was kann ich tun, wenn das eigentliche Problem, die Ursache für das Chaos, beim andern liegt - bei einem bösen Dikator, einem autoritären System, einer extremen Partei, einer machthungrigen Elite? Ich kann nichts tun, und diese Ohnmacht ist es denn auch, die die Grundlage für alle Strategien abgibt, das Chaos in Ordnung zu bringen. Wenn „der andere“ schuld ist, dann fühle ich mich in meiner Ohnmacht gerechtfertigt, „den anderen“ zu verurteilen, ihn auszugrenzen oder zu bekämpfen. Der heilige Krieg wird immer von denen geführt, die sich vorher selbst heilig gesprochen haben. Das hat der amerikanische Dichter Charles Bukowski bereits 1966 in seinem Gedicht „The Genius of the Crowd“ auf den Punkt gebracht: „Und am besten morden die, die den Mord verdammen, Und am besten hassen die, die Liebe predigen, Und den besten Krieg führen am Ende die, die den Frieden predigen.“ Wir finden dasselbe Muster: Verdrängung des eigenen Schattens, Projektion des Schattens auf andere und Bekämpfung des Schattens im anderen - nicht nur in der Politik und im gesellschaftlichen Leben. Im privaten und beruflichen Leben ist es ähnlich. Auch hier führt die Betrachtung, das Problem liege beim anderen und nur beim anderen, zur Ohnmacht, die wiederum die Grundlage für den angstvollen Rückzug oder den „heiligen Krieg“ gegen den Schuldigen ist. Wenn die Ehe zerbricht, ist der egoistische Mann oder die egoistische Frau schuld, im Beruf ist der manipulative Chef oder der intrigante Kollege schuld. Wenn uns etwas Schmerzhaftes widerfährt, haben wir das intensive Bedürfnis, jemanden schuldig zu sprechen. Wenn dich also beim nächsten Mal das Chaos in der Welt überwältigt und dir Sorgen macht, dann halte einmal inne. Vielleicht ist es ja gut, wenn wir das Chaos einmal als solches wahrnehmen, statt es wie früher zu verdrängen. Denn es ist ja nicht so, dass es vor Corona, Ukraine und Gaza keine Gewalt und Not gegeben hätte auf der Welt. Sehen wir also einmal die Tatsache, dass wir das Chaos erkennen und uns daran stören, als ein Signal des Aufmerkens und Aufwachens. Dann sind wir vielleicht motiviert, die Schuld nicht nur außen zu suchen, sondern uns auch selbst zu fragen: Was ist mein eigener Beitrag zum Chaos in der Welt? Die Gedanken, die ich denke, die Gefühle, denen ich Raum geben, die Energien und Handlungen, die ich in die Welt setze - wie wirkt das alles in dieses Chaos hinein? Habe ich wirklich nichts mit dem zu tun, was da draußen geschieht? Und wenn wir bei dieser Frage ratlos aus der Wäsche schauen, unwillig den Kopf schütteln oder zerstreut nach dem Handy greifen, dann finden wir vielleicht in dieser Reaktion einen Hinweis darauf, warum das Chaos nach so langer Zeit immer noch da ist. Irgendwann habe ich es gemerkt und dann kamen mir diese Worte in den Sinn. Ich wiederholte sie, so als müsste ich mich davon überzeugen, dass das Offensichtliche nicht vielleicht doch eine Täuschung war. Doch die Rechnung ergab auch nach mehrmaliger Prüfung dasselbe Ergebnis: Rückzug funktioniert nicht. Für mich, einen Einzelkämpfer, war das eine überwältigende Neuigkeit.
Natürlich gibt es Situationen, in denen Rückzug eine gute Sache ist. Wenn sich eine Beziehungssituation verfährt und die Gefühle heftig, kompliziert und unberechenbar sind, können Distanz und Zurückhaltung ein Weg sein, sich dem Getümmel der wechselseitigen Zuschreibungen und Projektionen zu entziehen, sich vor Eskalationen zu schützen und zu beruhigen. Doch Rückzug als seelischer Dauerzustand, als rettende Insel oder schier vorherbestimmtes Kellerdasein ist tatsächlich keine Lösung. Denn wir nehmen alles, was sich zwischen mir und dir, zwischen mir und euch, zwischen mir und denen je ereignet hat und vielleicht immer noch ereignet mit in die Zurückgezogenheit. Ich bleibe immer in Beziehung, ob ich mir dessen bewusst bin oder nicht. Das klingt erst einmal deprimierend, so als seien Beziehungserfahrungen wie eine Klette, die wir gezwungenermaßen mit uns schleppen ohne Aussicht auf echten Neuanfang. Doch die Sache hat eine helle Seite. Denn die Begegnung mit anderen ist eben das, was uns überleben lässt, und gerade weil sie so wichtig ist, möchte die Natur, dass wir sie pflegen und gut mir ihr umgehen. Nur weil ich mir den Magen mit falschem Essen verderben kann, muss ich nicht lebenslang aufs Essen verzichten. Warum sage ich, dass uns Beziehung überleben lässt? Allein schon der Blick auf die ersten Lebensjahre lässt uns erkennen, wie intensiv das Überleben des Kindes von seinen Eltern - den anderen - abhängt. Dies Abhängigkeit besteht, ob die Beziehung als förderlich oder schädlich erlebt wird; das Kind nimmt vieles hin, solange es nur an der Beziehung festhalten kann. In den ersten Lebensjahren sind wir seelische Klammeräffchen. Später nimmt die ausschließliche Abhängigkeit von bestimmten einzelnen Personen ab, doch was bleibt ist das grundlegende Angewiesensein unseres Nervensystems auf andere Nervensysteme, die wahrnehmen, fühlen und kommunizieren können. Wir brauchen die Resonanz, den Spiegel, den Austausch mit anderen lebenden Wesen. Hier traf mich, den Einzelgänger und Einzelkämpfer (nicht aus Neigung, sondern aus Not), die blitzartige Erkenntnis. Ich kann nicht wissen, wer ich bin, wenn ich ohne ein echtes Du bleibe. Ich brauche dich, um mich zu entdecken, zu spüren, zu erkennen. Dabei muss der du-lose Zustand überhaupt kein Zustand bewusster äußerer Abgeschiedenheit sein. Es ist, wie ich meine, vor allem der Zustand unbewusster innerer Du-losigkeit, der heutzutage so viel Verwirrung, Schmerz und Konflikt stiftet. Denn wenn wir einander in Begegnung und Austausch zum Leben brauchen (und auch in den frühen Jahren geht es dabei nie nur um das „rein physische“ Überleben: gruselige Experimente, die mit Kleinkindern angestellt wurden, ergaben, dass Babys regelrecht verkümmerten, wenn man sie ohne Ansprache, Wärme und Zuwendung fütterte und versorgte), und wenn es dabei vor allem auf die innere Qualität dieser Begegnung ankommt (bloßes Zusammensein reicht nicht), dann muss selbst der eingefleischte Rückzügler zugeben, dass das Problem schwieriger Beziehungen sich nicht durch Vermeidung lösen lässt. Ich brauche echte Begegnung, also eine Beziehung, in der ich mich ganz in Verbindung mit dem anderen erfahre. Nicht nur Rückzug funktioniert nicht. Auch Verstellung, Rollenspiel und Anpassung funktionieren nicht. So wenig wie Beziehungskontrolle, durch die der andere gezwungen werden soll, so zu sein, wie ich ihn haben will. Ob Rückzug, Anpassung oder Dominanz - sie alle können das natürliche tiefgreifende Bedürfnisse nach Kommunikation, Berührung, wechselseitiger Wahrnehmung, Wertschätzung und Liebe nicht befriedigen. Wir brauchen echte Begegnung.. Manche Menschen leben ihr Leben wie im Transitbereich eines Flughafens. Sie sind gerade aus einem Flugzeug ausgestiegen und wandern in den Wartebereich, bis ihr Anschlussflug ausgerufen wird. Im Transitbereich gibt es bequeme Stühle, die Menschen lesen, hören Musik, kaufen etwas Nutzloses ein oder erledigen Emails. Manche sind hektisch, betriebsam und effektiv, andere überlassen sich dem Gang der Dinge. Vor allem aber: man wartet auf den nächsten Flug, unruhig und träge zugleich. Man wartet darauf, dass es endlich passiert. Es, das ist das Leben, das Glück, die Erfüllung.
In Wirklichkeit findet das Leben nicht im Transitbereich zwischen Vergangenheit und Zukunft statt, sondern in dem Raum, in dem wir jetzt leben. Das ist der einzige Raum, den wir je hatten und je haben werden. Dieser Raum ist bereits das Ziel, der Ort der ultimativen Ankunft. Wo sonst sollten wir ankommen, wenn nicht genau an diesen Ort zu dieser Zeit? Ankommen heißt: mir schwirrt nicht der Kopf von dem, was ich vor 5 Minuten, 3 Tagen oder 30 Jahren erlebt habe. Und es heißt: ich fühle mich nicht getrieben, „weiterzukommen“, mich „zu entwickeln“ und „was zu erreichen“. Ich bin einfach da, offen und verfügbar für das, was jetzt geschieht, innen wie außen. Ich lebe. Wahrscheinlich hast du diese Gegenwärtigkeit schon einmal erlebt, spontan und ohne Vorbereitung. Der Anblick einer Blume hat dir die Sprache verschlagen und für einen Moment stand das Leben still. Der Glanz eines Wassertropfens im Sonnenlicht oder der Wind in den Blättern hat dich einkehren lassen in diesen Raum der Gegenwart. Ein zeitloser Moment der Berührung, des Ausatmens, der Freude. Und dann zerbricht der Zauber so einfach, wie er gekommen ist und enttäuscht fühlst du dich zurückkatapultiert in den Strom der Zeitreisenden, die ihr Leben im Transitbereich führen. Dann beklagst du dich: zugegeben, das Glück in der Gegenwart gibt es, ja, aber es ist so flüchtig! Doch stimmt das wirklich? Vielleicht ist nicht die Gegenwart flüchtig, sondern wir. Vielleicht sind wir Zeitflüchtlinge, ruhelose Nomaden, die verlernt haben anzukommen. Wenden wir uns doch dieser verlernten Kunst zu, der Kunst, in der Gegenwart zu leben. Es ist dies jedoch nicht die Gegenwart als Transitbereich zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern ein Gegenwart jenseits der Zeit. In dieser zeitlosen Gegenwart sind Vergangenheit und Zukunft nicht völlig unbekannt, aber sie spielen eine untergeordnete Rolle. Sie sind als Denkoperationen in die Gegenwart integriert, denn manchmal ist es praktisch, sich zu erinnern, was gewesen ist, und sich vorstellen zu können, was passieren könnte. Abgesehen davon, ist die Gegenwart einfach ein zeitloser Raum des Seins, des echten Lebens. Hier und jetzt spielt die Musik. Oder sie spielt gar nicht. "Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer."
So schrieb Bertold Brecht im Jahr 1952, als es um die Frage einer Wiederbewaffnung Deutschlands nach den Schrecken des Weltkriegs ging. Heute, da sich die politischen Vertreter der Deutschen mehrheitlich dazu entschlossen haben, Panzer an die Ukraine zu liefern, bewahrheitet sich dieser Satz einmal mehr. Denn es scheint den Beteiligten und dem Chor der Zustimmenden nicht bewusst zu sein, was sie tun. Konflikte gehören zum Leben. Sie sind Ausdruck unserer komplexen Natur, da sie ein Bewusstsein für widerstreitende Gegebenheiten in der inneren und äußeren Welt voraussetzen. Es ist ein Zeichen von Intelligenz, dass wir Konflikte erleben. Wenn wir konstruktiv mit ihnen umgehen, können wir an ihnen wachsen. Doch Konflikte lösen auch Stress aus. Je stärker wesentliche Bedürfnisse berührt werden, umso heftiger die Stressreaktion. Zu den typischen Zeichen von Stress gehören Wahrnehmungsverengung, Wirklichkeitsverzerrung, Empathieverlust, Aggression, Irrationalität und Kurzschlusshandlungen. Die erfolgreiche Bewältigung von Konflikten ist stark davon abhängig, ob die Beteiligten ihren Stress realistisch einschätzen können. In einem gewissen Umfang ist die Stressreaktion hilfreich: sie macht wach und mobilisiert Energie für die anstehende Konfliktbewältigung. Steigert sich der Stress jedoch über ein gewisses Maß, bahnt er sich irrationale und destruktive Wege. Im Fall eines Konflikts besteht die große Gefahr also darin, dass der nicht mehr in seiner sinnvollen Dimension erkannt wird - er eskaliert und wird destruktiv. Blinde Eskalation - das ist es, was im Kontext des Russland-Ukraine-Konflikts in diesem Land geschieht. Die militärische Aktion Russlands gegen die Ukraine hat Angst und Schrecken ausgelöst. Das ist verständlich. Doch was sich in der Folge im Bewusstsein vieler Menschen entfaltete, trägt die Züge einer übersteigerten und irrationalen Stressreaktion, in der Angst und Aggresssion die Regie geführt haben. Unter einem Hagelsturm politischer Propaganda stand Russland als Schuldiger für den Konflikt schnell fest. Die Ukraine wurde zum unschuldigen Opfer eines bösen Tyrannen erklärt und somit schien sich für alle Menschen mit Herz als einzige Rolle im Konfliktgeschehen die Rolle des Retters aufzudrängen: "Wir müssen denen helfen, die dem Diktator standhaft entgegentreten - notfalls mit Waffengewalt!" Eine solche Konstruktion des Konfliktgeschehens ist jedoch nur möglich, wenn man wesentliche Aspekte dieses Konflikts ausblendet:
Krieg wird geführt, wenn Krieg befürwortet wird. Krieg wird befürwortet, wenn Angst, Hass und Aggression das Bewusstsein der Menschen vernebeln. Es ist an der Zeit, innezuhalten und nach den wahren Ursachen dieses Konflikts zu suchen. Dazu sind Gespräche und Verhandlungen notwendig, nicht nur auf Seiten der Politiker, sondern auch unter den Bürgern dieses Landes. Es gilt, nicht nur die Gewalt der anderen, sondern auch die eigenen bislang aus dem Bewusstsein verdrängten Aggressionen realistisch wahrzunehmen und anzuerkennen. Wenn die Wahrheit das erste Opfer des Krieges ist, könnte nicht die Wahrhaftigkeit der Einzelnen und der Vielen die Tür zum Frieden öffnen? Es ist höchste Zeit, Bertold Brechts prophetische Warnung aus dem Jahr 1952 ernst zu nehmen: "Lasst uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind! Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden." |
Guido Ingendaay
Ich schreibe zu persönlichen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Themen. Die gemeinsame Perspektive ist das authentische Leben, das die Möglichkeiten innerer Entfaltung, echter Begegnung und Gemeinschaftlichkeit erforscht. Mehr zu mir finden Sie hier.
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November 2024
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