Solidarisierung und Isolation
Botschaft: Gemeinsam schaffen wir das - haltet euch voneinander fern! Der Kampf gegen eine vermeintlich außergewöhnliche Infektionsgefahr wird als eine Sache nationaler Solidarisierung dargestellt. Wer sich im öffentlichen Raum bewegt, kann sich den Appellen an unsere Verantwortlichkeit und Gemeinschaftlichkeit nicht entziehen. Ob an U-Bahn-Haltestellen, auf Plakatwänden, über Lautsprecher in der Bahn und Leuchttafeln an Autobahnen, überall heißt es: "Gemeinsam schaffen wir das!" Der Ruf nach Solidarisierung geht jedoch einher mit der Aufforderung, sich zu vereinzeln. Das propagierte Mittel zur Krisenbewältigung ist das "social distancing", also nicht nur das körperliche Abstandhalten, sondern auch das Reduzieren von sozialen Kontakten und Begegnungen jedweder Art. Vereinzelung ist für Psyche und Körper des Menschen jedoch schädlich. Wir brauchen Gemeinschaft, Nähe und Beziehung. Wir sind keine Maschinen, die man für ein paar Monate auf sozialen Ruhemodus schalten kann. Gemeinschaftlichkeit setzt echten Konsens voraus, aber was hier propagiert wird, ist eine unmenschliche Isolationsmaßnahme im Namen der Gesundheit. Überlegen Sie sich, was diese Vereinzelung für alte Menschen, für Kranke, für Menschen in Pflegeheimen, für Kinder, für psychisch belastete Menschen bedeutet. Wurden diese Menschen gefragt, ob sie auch das Gefühl haben, "es zu schaffen"? Die Entscheidung darüber, was verantwortlich und dem Allgemeinwohl dienlich ist, liegt nicht bei den Menschen unserer Gesellschaft, sondern bei der Bundesregierung, die sich in gewissen Abständen per Videokonferenz mit den Ländern darüber verständigt, wer sich wann wie wo mit wem treffen und nicht treffen darf, und bei den Gesundheitsämtern, Schulleitungen und den unzähligen Verordungsgebern auf Organisations- und Institutionsebene, die ihre Zielgruppen mit den neuesten Corona-Regeln auf dem laufenden halten. Diese "Gemeinschaftlichkeit" ist eine Pseudogemeinschaftlichkeit, denn sie kommt von oben und fordert Gehorsam und Gefügigikeit ein. Isolationsmaßnahmen schwächen das Immunsystem, machen anfällig für Stress, Einsamkeit, Depression und Aggression. Es ist verrückt, wenn im Namen des Gemeinwohls auf Monate hinweg die soziale, kulturelle und kommunikative Infrastruktur der Gesellschaft (Freundeskreise, Vereine, Chöre, Gottesdienste, Theater, Cafes, Restaurants etc.) ausgesetzt wird. Wer denkt, dass dieses Modell der Krisenbewältigung vernünftig und gesundheitsdienlich sei, hat vielleicht noch nicht bemerkt, wie gestresst, belastet, verängstigt und unglücklich viele Menschen sind. Es ist verrückt, im Namen des Gemeinwohls und der Gesundheit die Menschen voneinander dauerzuisolieren, und die Verrücktheit geht noch einen Schritt weiter, wenn die Kritiker dieser Maßnahmen (mehrheitlich normale Bürger wie Sie und ich, unter ihnen zahlreiche Wissenschaftler und Experten) als unverantwortlich, unsolidarisch und alarmistisch bezeichnet und so aus der Gemeinschaft der Verantwortungsvollen ausgegrenzt werden. Mein Eindruck ist, dass diese Verrücktheit immer mehr auch von denen gespürt wird, die in Bezug auf die Infektionsgefahr anderer Meinung sind als die Kritiker der Corona-Maßnahmen. Tatsächlich geht es hier um einen gesellschaftlichen Grundkonsens: Wollen wir in einer soziel fragmentierten, digital durchstrukturierten Gesellschaft leben oder in einer offenen, freien Gesellschaft, in der die Menschen einander sehen, hören, spüren und berühren können? (Fortsetzung folgt.) Inmitten dessen, was wir jetzt als die "Corona-Krise" oder "epidemische Lage nationaler Tragweite" zu bezeichen gewohnt sind, stellt sich die Frage, wie es uns eigentlich geht, die wir diese Situation erleben. Wie sieht es in unserem Innern aus, in unserer Seele? Wie fühlen und denken wir wirklich, jenseits des großen Meinungsstreits? In letzter Zeit habe ich Menschen oft davon reden hören, dass wir "in einer verrückten Zeit" leben und dass gerade "alles verrückt" sei. Diese beiläufig wie ein Kommentar zum Wetter geäußerte Zeitdiagnose findet leicht Zustimmung. Ob Menschen eher die vom Virus ausgehende Gesundheitsgefahr oder die von den Corona-Maßnahmen ausgehende Gefahr für Demokratie und Bürgerrechte hoch einschätzen - wir leben "in verrückten Zeiten".
Woher kommt dieses "verrückte" Gefühl? Ich meine, dies liegt daran, dass wir seit Beginn der Corona-Krise mit Botschaften konfrontiert werden, die keinen Sinn ergeben, die also tatsächlich logisch unvereinbar und somit verrückt sind. Ich möchte in diesem und weiteren Artikeln diesem sozialpsychologischen Phänomen der "verrückten Zeit" nachgehen und erforschen, welche Folgen sich daraus für unser individuelles und gesellschaftliches Leben ergeben. Dramatisierung und Normalisierung Botschaft: Es ist sehr schlimm - gewöhnt euch dran! Von Anfang an wurde die Gefahr, die sich durch ein neuartiges Virus für die gesamte Bevölkerung und unser Gesundheitssystem ergebe, als katastrophal groß dargestellt. "Wie im Krieg", "Horrorszenario", "unvorstellbares Leiden" - es gab kein Superlativ, der ausgelassen wurde. Dazu kamen schockierende Bilder und mathematische Kurven, die vor vielen Tausend, ja Millionen Toten warnten. Seltsamerweise kommunizierte die Regierung jedoch schon bald, dass die Bevölkerung sich nun an eine "neue Normalität" zu gewöhnen habe. Abstandsgebote, Kontaktreduzierung, Besuchsverbote, Reiseverbote, Geschäftsschließungen, Einschränkungen des kulturellen und privaten Lebens - wir sollten uns einfach dran gewöhnen. So veröffentlichte beispielsweise die Tagesschau-Redaktion am 04.05.20 eine Chronik zur Corona-Krise unter dem Titel "Ausnahmezustand als neue Normalität". Die Frage, warum denn ein Ausnahmezustand zur Normalität werden solle, wird hier gar nicht mehr gestellt. Die Botschaft "Es ist sehr schlimm - gewöhnt euch dran!" ist bereits gedankenlos verinnerlicht. Schon im Frühling wurden wir vom Gesundheitsministerium in einer allgegenwärtigen Plakataktion auf einen Sommer nach den AHA-Regeln eingestimmt. Die "Alltagsmaske" wurde trotz rückläufiger (als "Infektionszahlen" deklarierter) positiver Testzahlen in vielen Situationen des öffentlichen Lebens verpflichtend. Der Begriff der "Alltagsmaske" suggerierte uns, dass es sich gar nicht um ein medizinisches Produkt handelt, sondern um ein normales Element gesellschaftlicher Wirklichkeit, ebenso unhinterfragbar wie Stau, Wartenschlangen und Regenwetter. Doch Dramatisierung und Normalisierung passen nicht zusammen, sie ergeben keinen Sinn. Wenn eine Lage außergewöhnlich gefährlich ist, kann sie nicht gleichzeitig normal sein. Die gesunde Reaktion auf eine bedrohliche Situation ist das Bestreben, sie zu überwinden und schnell zum Ruhegleichgewicht zurückzukehren. Durch die Rede von der "neue Normalität" wird der Impuls nach rascher Überwindung des Ausnahmezustands jedoch unterdrückt, wird der Ausnahmezustand zur Normalität erklärt. (Fortsetzung folgt.) |
Guido Ingendaay
Ich schreibe zu persönlichen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Themen. Die gemeinsame Perspektive ist das authentische Leben, das die Möglichkeiten innerer Entfaltung, echter Begegnung und Gemeinschaftlichkeit erforscht. Mehr zu mir finden Sie hier.
Kategorien
Alle
Archiv
September 2024
|