"Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer."
So schrieb Bertold Brecht im Jahr 1952, als es um die Frage einer Wiederbewaffnung Deutschlands nach den Schrecken des Weltkriegs ging. Heute, da sich die politischen Vertreter der Deutschen mehrheitlich dazu entschlossen haben, Panzer an die Ukraine zu liefern, bewahrheitet sich dieser Satz einmal mehr. Denn es scheint den Beteiligten und dem Chor der Zustimmenden nicht bewusst zu sein, was sie tun. Konflikte gehören zum Leben. Sie sind Ausdruck unserer komplexen Natur, da sie ein Bewusstsein für widerstreitende Gegebenheiten in der inneren und äußeren Welt voraussetzen. Es ist ein Zeichen von Intelligenz, dass wir Konflikte erleben. Wenn wir konstruktiv mit ihnen umgehen, können wir an ihnen wachsen. Doch Konflikte lösen auch Stress aus. Je stärker wesentliche Bedürfnisse berührt werden, umso heftiger die Stressreaktion. Zu den typischen Zeichen von Stress gehören Wahrnehmungsverengung, Wirklichkeitsverzerrung, Empathieverlust, Aggression, Irrationalität und Kurzschlusshandlungen. Die erfolgreiche Bewältigung von Konflikten ist stark davon abhängig, ob die Beteiligten ihren Stress realistisch einschätzen können. In einem gewissen Umfang ist die Stressreaktion hilfreich: sie macht wach und mobilisiert Energie für die anstehende Konfliktbewältigung. Steigert sich der Stress jedoch über ein gewisses Maß, bahnt er sich irrationale und destruktive Wege. Im Fall eines Konflikts besteht die große Gefahr also darin, dass der nicht mehr in seiner sinnvollen Dimension erkannt wird - er eskaliert und wird destruktiv. Blinde Eskalation - das ist es, was im Kontext des Russland-Ukraine-Konflikts in diesem Land geschieht. Die militärische Aktion Russlands gegen die Ukraine hat Angst und Schrecken ausgelöst. Das ist verständlich. Doch was sich in der Folge im Bewusstsein vieler Menschen entfaltete, trägt die Züge einer übersteigerten und irrationalen Stressreaktion, in der Angst und Aggresssion die Regie geführt haben. Unter einem Hagelsturm politischer Propaganda stand Russland als Schuldiger für den Konflikt schnell fest. Die Ukraine wurde zum unschuldigen Opfer eines bösen Tyrannen erklärt und somit schien sich für alle Menschen mit Herz als einzige Rolle im Konfliktgeschehen die Rolle des Retters aufzudrängen: "Wir müssen denen helfen, die dem Diktator standhaft entgegentreten - notfalls mit Waffengewalt!" Eine solche Konstruktion des Konfliktgeschehens ist jedoch nur möglich, wenn man wesentliche Aspekte dieses Konflikts ausblendet:
Krieg wird geführt, wenn Krieg befürwortet wird. Krieg wird befürwortet, wenn Angst, Hass und Aggression das Bewusstsein der Menschen vernebeln. Es ist an der Zeit, innezuhalten und nach den wahren Ursachen dieses Konflikts zu suchen. Dazu sind Gespräche und Verhandlungen notwendig, nicht nur auf Seiten der Politiker, sondern auch unter den Bürgern dieses Landes. Es gilt, nicht nur die Gewalt der anderen, sondern auch die eigenen bislang aus dem Bewusstsein verdrängten Aggressionen realistisch wahrzunehmen und anzuerkennen. Wenn die Wahrheit das erste Opfer des Krieges ist, könnte nicht die Wahrhaftigkeit der Einzelnen und der Vielen die Tür zum Frieden öffnen? Es ist höchste Zeit, Bertold Brechts prophetische Warnung aus dem Jahr 1952 ernst zu nehmen: "Lasst uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind! Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden." Konflikte gehören zum Leben. Sie scheinen unvermeidlich zu sein angesichts der Unterschiedlichkeit der Menschen. Was ich will und brauche, ist nicht immer deckungsgleich mit dem, was du willst und brauchst. Wo es Regeln gibt, lassen sich Konflikte vermeiden. Im Straßenverkehr zum Beispiel. Ein Konflikt zwischen Fahrer A und Fahrer B wird nach festen Regeln gelöst. Muss sich dann nur jeder an die Regeln halten, was bekanntlich nicht immer gelingt. Die meisten Konflikte lassen sich aber nicht über Regeln lösen. Vor allem die zwischenmenschlichen Konflikte brauchen eine Offenheit für die besondere Situation, ein aktives Miteinander-Sprechen, Einander-Zuhören, ein Miteinander-Denken-und-Fühlen. Dieser Prozess lässt sich nicht in Regeln erfassen. Er ist zu vielschichtig und kann nur mit Präsenz, Einsicht und Intuition bewältigt werden.
Die Frage ist, ob wir die Tatsache anerkennen, dass Konflikte, die ungelöst bleiben, nicht einfach dadurch verschwinden, dass wir uns mit ihnen nicht mehr beschäftigen. Vielleicht hat sich A gegenüber B durchgesetzt und für ihn ist der Fall damit erledigt. Für B aber nicht und deswegen geht der Konflikt in veränderter Gestalt weiter. Wenn Konflikte ungelöst bleiben, wirken sie weiter. Es ist deswegen wichtig, zu verstehen, wie wir Konflikte lösen können. Der erste Schritt auf dem Weg zur Lösung ist die Klärung. Ein unklarer Konflikt kann nicht gelöst werden (außer durch Zufall oder Fügung). Was bedeutet Klärung? Der Konflikt erscheint auf den ersten Blick immer etwas anders, als er von seinem Wesen her ist. Das berühmte Beispiel aus der Partnerschaft ist der Streit um die Zahnpastatube: Ist es richtig, sie von hinten auszudrücken? Oder ist es erlaubt, sie von egal wo auszudrücken? Diese Sachfrage ist natürlich verbunden mit Beziehungsfragen: Wer darf hier wem sagen, was er tun soll? Wie kommen wir zusammen, wenn wir nun mal unterschiedlich sind? Könnte ich mich von meiner Position abbringen lassen und wie gefährlich wird das für mich, dir gegenüber nachzugeben – bin ich dann in deinen Augen nicht mehr so viel wert? Diese Beziehungsfragen sind nun nicht mehr so harmlos wie die Frage nach der Zahnpastatube. Es sind essentielle Fragen des menschlichen Lebens. Wenn es uns nicht gelingt, auf diese Fragen eine Antwort zu finden, die uns beiden gerecht wird, dann werden wir es nicht schaffen, die Sache mit der Zahnpastatube klar zu kriegen. Dies ist eine Gesetzmäßigkeit: Beziehungskonflikt sticht Sachkonflikt. Wenn wir den Beziehuhgskonflikt nicht lösen können, dann kommen wir unter keinen Umständen an den Sachkonflikt heran. Umgekehrt geht das schon. Wenn der Sachkonflikt ungelöst bleibt, ist es durchaus möglich, unseren Beziehungskonflikt zu lösen. Wenn wir die relative Vorrangigkeit des Beziehungskonflikts erst einmal verstehen, dann hören wir auf, uns immer wieder auf die Sachthemen zu stürzen. Denn wir werden spüren, dass dieses Sprechen über die Sachebene ein Ausweichen ist, getragen von der Furcht, den Beziehungskonflikt anzugehen. Wir haben Konflikte nicht nur im alltäglichen privaten und beruflichen Leben, wo sie uns möglicherweise lösbar erscheinen mögen. Wir erleben auch Konflikte von großem Umfang. Groß deshalb, weil dort nicht einzelne Personen, sondern jeweils viele Menschen in großen Gruppen daran beteiligt sind: Parteien, Konzerne, Regierungen, Armeen, Gewerksschaften, Lobbygruppen, Bürgervereinigungen, die ganze Gesellschaft. Die Szenerie ist unüberschaubar. Wer hat mit wem eigentlich hier einen Konflikt? Worin besteht dieser Konflikt eigentlich? Worum geht es im Kern? Diese Fragen können nicht beantwortet werden, wenn die tieferliegenden Beziehungsfragen nicht angegangen werden. Wenn zum Beispiel Menschen einander nicht mehr vertrauen können, wie sollen sie dann einen Konflikt gemeinsam lösen können? Wenn eine Gruppe vor einer anderen Gruppe Angst hat und misstrauisch ist, wie können wir dann erwarten, in der Sache weiterzukommen? Es ist an der Zeit, dass wir uns darum bemühen, die Beziehungsfragen offen anzusprechen und ihre Wirkmächtigkeit anzuerkennen. Im Privatleben, im Beruf, in der Politik, in der Gesellschaft. Wenn wir dieses Tabu nicht auflösen, werden wir die Konflikte nicht lösen können. Eine Gesellschaft, die nicht fähig ist, Konflikte zu lösen, ist jedoch dazu verurteilt, immer gewalttätiger und autoritärer zu werden. Wenn die eigentlichen Ursachen für die Konflikte, die wir miteinander haben, nicht wahrgenommen werden, wird die Spaltung der Gesellschaft weitergehen. Ein Konflikt verschwindet nicht, wenn wir ihn nicht lösen. Wir spüren ja tagtäglich die Folgen ungelöster Konflikte – unserer eigenen und der vielen, vielen ungelösten Konflikte der Vergangenheit, die unsere Vorfahren nicht zu lösen vermochten. Es ist an der Zeit, über unsere Konfliktkultur neu nachzudenken und Neues auszuprobieren. Fangen Sie am besten heute damit an, Ihre Konflikte anzuschauen. Erst die Beziehungsebene, dann die Sachebene. Und dann kommen Sie darüber ins Gespräch. Und wenn es Ihnen nicht gelingt, den Konflikt zu lösen, so können Sie ihn doch wenigstens klären, d. h. relative Klarheit darüber herstellen, worum es dabei geht, sowohl auf der Beziehungs- als auch der Sachebene. Das ist der erste Schritt. Und vielleicht können Sie ja demnächst wieder darüber ins Gespräch kommen – und dann zeigt sich Ihnen und Ihrem Gegenüber, wie sich der Knoten auflösen lässt und Sie beide gemeinsam weiter gehen könnten. |
Guido Ingendaay
Ich schreibe zu persönlichen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Themen. Die gemeinsame Perspektive ist das authentische Leben, das die Möglichkeiten innerer Entfaltung, echter Begegnung und Gemeinschaftlichkeit erforscht. Mehr zu mir finden Sie hier.
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