Wie soll ich das alles bloß schaffen? Das ist ein typischer Satz von Menschen, die sich in ihrem Alltag unter Druck fühlen. Sie machen Listen und bemühen sich, doch nie reichen ihre Bemühungen aus. Es gibt immer noch etwas zu tun, etwas zu erledigen, etwas zu schaffen. Gibt es einen Ausweg aus der Selbstüberforderung? Was brauchen wir, um ein gelasseneres und freieres Leben zu führen? Darum soll es jetzt gehen.
Wie soll ich das alles bloß schaffen? Wer so spricht, fühlt sich unter Druck. Einige fahren den Turbo hoch und kämpfen mit den Widrigkeiten, um „alles zu schaffen“. Andere fühlen sich so überwältigt davon, dass sie in Starre und Passivität verfallen oder sich mit den neusten Emails ablenken. Wie soll ich das alles bloß schaffen? Atemlosigkeit und der Druck im Brustkorb sind spürbar. Der Stress, der in der Frage steckt, zeigt, dass hier an der Wurzel etwas nicht stimmt. Die Frage ist so gestellt, dass sie nur Stress erzeugen kann: „Wie soll ich das bloß alles schaffen?“ Jedes einzelne Wort enthält ein Problem. Fangen wir mit dem „soll“ an. „Soll“ suggeriert eine unumstößliche Notwendigkeit, einen Auftrag, über den nicht mehr diskutiert werden kann. Warum „soll“, warum nicht „will“ oder „kann“? Nein, es muss ein „soll“ sein! Da ist die erste Enge, die erste Bedrängnis. Dem „Soll“ folgt dann das Problem mit „Wie“. Wie soll ich das alles bloß schaffen? Es geht nicht darum, ob ich soll, ob der Anspruch wirklich gerechtfertigt ist, sondern nur noch wie ich ihm genügen kann. Da ist die nächste Enge. Gehen wir weiter. Wie soll ich das alles bloß schaffen? Hier geht es darum, alles schaffen zu sollen, nicht nur etwas, nicht nur das Wesentliche oder das Mögliche, sonders uneingeschränkt alles. Hier liegt die Gefahr einer Überforderung, denn „alles“ ist doch sehr viel. Warum will ich denn unbedingt „alles“ schaffen? Warum ist so wichtig daran? Und was bedeutet „alles“, ist „alles“ nicht ein bisschen viel? Aber wir sind noch nicht am Ende der Reise, denn es kommt da noch das Wort „schaffen“. Wie soll ich das alles bloß schaffen? Was heißt „schaffen“? Es hat eine doppelte Bedeutung. Es kann heißen: schöpferisch sein. Und es kann heißen: etwas erledigen, machen. Die Frage „Wie kann ich das alles bloß schaffen?“ ist keine Frage nach unserer Schöpferkraft, sondern spricht den Macher in uns an. Man kann zum Beispiel eine Arbeit schaffen, also erledigen. Aber kann man in diesem Sinne auch Beziehungen schaffen, Liebe schaffen, Leichtigkeit schaffen, Frieden schaffen? Nein. Denn vieles im Leben ist überhaupt nicht schaffbar. Beziehungen wollen entwickelt und gepflegt werden, Sinn will entdeckt und gelebt werden, Kooperation will erprobt und vertieft werden. Das alles kann gar nicht geschafft werden, weil wir zu einem guten Leben vieles andere über bloßes Schaffen hinaus brauchen. Das Leben ist doch sehr viel mehr als das, was es darin zu machen und zu schaffen gibt. Im Leben geht es doch sicher auch darum, etwas zu erleben, zu fühlen, zu entdecken, wahrzunehmen, zuzulassen, anzunehmen oder zu gestalten. Wie soll ich das alles bloß schaffen? Dieser Satz erzeugt also mit jedem Wort Spannung, Verengung und Druck, und wenn er nicht hinterfragt wird, treibt er uns dazu an, über unsere Grenzen zu gehen und uns im blinden Erfüllen von Normen zu verlieren. Wie soll ich das bloß alles schaffen - schließlich erzeugt dieser Satz das Gefühl des Mangels, er legt nahe, dass jetzt etwas nicht in Ordnung ist, dass das Leben erst dann, wenn alles geschafft ist, als gut und richtig empfunden werden kann. Folgen wir doch einmal dieser Spur. Wie ist es denn jetzt? Fehlt dir jetzt etwas? Wenn du tatsächlich das Gefühl hast, dass dir jetzt etwas fehlt, dann fühle es doch einfach mal. Formuliere für dein Mangelgefühl nicht gleich einen rationalen Grund. Und erzähle dir auch nicht gleich die Geschichte, dass du dieses Gefühl, dass dir etwas fehlt, loswerden müsstest. Fühle einfach, dass dir etwas fehlt. Zum Beispiel: Mir fehlt es, dass ich diese Arbeit erledigt habe. Mir fehlt es, dass es harmonisch ist zwischen uns. Mir fehlt es, dass es aufgeräumt ist. Mir fehlt es, dass dieses Problem gelöst ist. Geh erst einmal zurück zu diesem Gefühl des Mangels und vergiss die Geschichte darum herum. Wie fühlt es sich an, wenn du dieses Gefühl erst einmal bei dir ankommen lässt?. Du darfst ein Mensch sein, dem gerade etwas fehlt oder der meint, es fehle ihm etwas gut. Gut, dann bist du jemand, dem gerade etwas fehlt. Du wirst vielleicht wirklich nicht „das alles“ schaffen. Wenn du die Unmöglichkeit, alles schaffen zu sollen, akzeptierst, wird etwas von der Anspannung weichen. Und du kannst entdecken: Es gibt vielleicht etwas Einfaches und Naheliegendes, das du ja durchaus tun kannst. Etwas, das dich nicht stresst, etwas, das möglich und sinnvoll ist, das du gerne geben kannst, ohne dass es dich zerreißt. Nimm dir Zeit. Du brauchst Zeit dafür zu erspüren, was hier und jetzt möglich ist und was nicht. Ich versteh schon, da ist ganz vieles, was du noch nicht erledigt hast. Es ist mir schon klar. Aber wenn schon! Vielleicht gibt es tatsächlich gerade wenig Zeit, Energie, Motivation oder Hilfe. Wenn das so ist, kannst du es auch nicht erzwingen. Auch wenn du dich unter Druck setzt, dich antreibst, die Vorwürfe wegen deines Aufschiebens machst, wirst du doch nichts daran ändern, dass nicht alles zu schaffen ist. Doch das wird nicht akzeptiert, dagegen mobilisiert sich Widerstand. Ich muss das schaffen, es muss doch gehen, andere schaffen es doch auch. Das Selbstverständnis, das sich hier zeigt, ist das eines Menschen, der sich und sein Leben im Griff haben will, der sich optimal organisieren und funktionieren zu müssen glaubt, und der sich deswegen auch disziplinieren und regulieren muss. Denn es muss ja funktionieren, es muss ja klappen. Das Selbstverständnis des organisierten Menschen ist unserer Kultur vorherrschend. Ein Großteil unseres öffentlichen, privaten und beruflichen Lebens dreht sich darum, uns und unser Leben möglichst effizient zu organisieren, doch mit diesem allumfassenden Organisationsanspruch treiben wir dem Leben seine Schönheit aus, seine Leichtigkeit, seinen Glanz und seinen Zauber. Irgendwann merken wir dann, dass wir in diesem Zustand des getriebenen, ruhelosen, gehetzten Organisierens unsere Mitte verloren und anderen Menschen nichts mehr zu geben haben, dass wir das Vibrieren in uns und zwischen nicht mehr spüren, die Lebendigkeit, die Freude. Und dann organisieren wir auch das wieder und sagen: Ich muss es schaffen, dass ich dir mehr Qualitätszeit gebe. „Qualitätszeit“ heißt: Ich versuche das Wertvolle des Lebens zu organisieren. Das geht nicht. Wenn das Wertvolle des Lebens entdeckt werden will, muss das Organisieren losgelassen werden. Solange das Selbstverständnis des organisierten Menschen an der Macht ist, werden wir uns in uns ungenügend und wertlos fühlen und deswegen immer wieder unter Druck setzen, um unseren Wert in der Anpassung und im Funktionieren zu finden. Wir werden ein Leben der Selbstbeherrschung und der Selbstunterdrückung, ja der Selbstverleugnung führen. Der organisierte Mensch ist sich selbst entfremdet. Sein Leben ist widernatürlich und unlebendig, weil der organisierte Mensch sich selbst fortwährend außerhalb seines eigenen Lebens stellt und sich einen Plan macht, wie das Leben sein sollte, wie das Leben sein müsste und wie das Leben auf keinen Fall sein darf. Und dann geht die Energie des organisierten Menschen in dieses Sollen, Müssen, Planen, Schaffen und schließlich, weil das Leben sich dann doch nicht zwingen lässt, ins Kämpfen und auch ins Bekämpfen, denn alles, was dann nicht passt, muss ja bekämpft werden. Alles was in mir nicht passt, muss bekämpft werden, und alles was beim anderen nicht passt, muss bekämpft werden. Und so wird in der Schule der Schüler bekämpft vom Lehrer, wenn er nicht so lernt, wie er soll. Bei der Arbeit wird der Mitarbeiter von seinem Kollegen bekämpft, wenn er nicht so viel leistet, wie er soll. In der Beziehung wird der Partner bekämpft, wenn er nicht so viel gibt, wie er soll. Überall wird gekämpft. Und Grund für diesen Kampf ist: Ich will doch nur alles schaffen. Wenn alles geschafft ist, wird doch bestimmt alles gut sein. Das Selbstverständnis des organisierten Menschen führt uns in die Irre, es hat uns bereits in die Irre geführt, und zwar nicht erst seit gestern. Wir haben es tief verinnerlicht, wir geben es von Generation zu Generation weiter. Es ist ein verzerrtes Bild des Menschen von sich selbst. Der Mensch hat gelernt, sich selbst zum Objekt zu machen, sich auf eine äußere Funktion zu reduzieren und sich dem System, das er erschaffen hat, anzupassen. Die Steigerung dieser Mentalität haben wir zuletzt in der Corona-Zeit erlebt, als die ganze Gesellschaft in ein System zur Bekämpfung eines Virus transformiert wurde. Das Recht jedes Menschen, mit seinem eigenen Leben nach eigenem Ermessen umzugehen, wurde über Jahre eingeschränkt. Wir dürfen es aber nicht auf die äußeren Institutionen schieben. Denn alle Tendenzen übermäßiger Kontrolle, wie wir sie in übergriffigen Gesundheitsmaßnahmen oder digitaler Massenüberwachung beobachten können, finden wir auch in uns selbst. Weil wir innen bereit sind, uns selbst zu organisieren, erzeugen wir außen Systeme der Organisation, in denen der Mensch nur noch funktionieren soll. Wir haben uns zum Gefängniswächter unserer selbst gemacht. Wir haben uns ein Gefängnis geschaffen und wir überwachen uns, damit wir bloß nicht entkommen. Und wer sitzt in diesem Gefängnis? Das freie, lebendige, verletzliche, sich nach Beziehung, Schönheit und Sinn sehnende Wesen, das wir sind. Du musst mir nicht glauben, ich will dich nicht überzeugen. Ich habe keine Angst davor, dass du mir nicht zustimmst. Ich sage: Mach doch, was du willst. Mach doch, was DU willst, was du wirklich willst, wozu du wirklich ja sagen kannst. Und das ist etwas anderes als das, was du denkst, das du tun solltest. Von dem Gedanken an das, was du solltest, wirst du verfolgt. Von dem Gedanken an das, wozu du wirklich ja sagen kannst, wirst du getragen, wirst du gewärmt, genährt, inspiriert. Und du findest das, wozu du wirklich ja sagen kannst, wenn du wieder lernst, von dir selbst auszugehen, statt den Normen des organisierten Lebens zu folgen. Wie soll ich das alles bloß schaffen? Du darfst innehalten. Du musst es nicht schaffen. Du darfst dein Leben in die Hand nehmen und dich erneuern lassen vom Leben, in jedem Augenblick neu, du darfst lieben und geliebt werden. Du darfst Freude empfinden und du darfst warten. Du darfst auch Schmerzen haben und Krankheit. Denn du darfst auch sterben, du darfst irgendwann auch gehen. Das Leben ist kein Problem, sondern ein Geheimnis. Nimm dir Zeit zu realisieren, dass du vieles nicht weißt. Wir wissen so vieles nicht. Wir stehen dem Leben als Unwissende gegenüber, und das macht uns so große Angst, dass wir eigenmächtig das Leben nach unseren Vorstellungen definieren, um es dann organiseren und kontrollieren zu können. Die Verrückten der Welt, die nach der totalen Kontrolle des Lebens streben, werden erst dann aufhören damit, wenn Menschen aufwachen und merken, dass sie diese Verrückten auch in sich selbst haben. Wir haben sie nur deswegen da draußen, weil wir sie so stark in uns haben. Es ist unmöglich, sie da draußen zu stoppen, solange wir sie noch in uns haben. Hör auf, dich zu organiseren und organisieren zu lassen. Du darfst von dir selbst ausgehen, von deiner subjektiven Perspektive auf das Leben. Schau nach innen, schau nach außen, halte inne. Erkenne Realitäten an, akzeptiere, was du nicht ändern kannst, finde die Freiräume, die offenen Türen, die Gelegenheiten des Augenblicks, triff deine eigenen Entscheidungen. Mach deine eigenen Fehler. Statt „Wie soll ich das alles bloß schaffen?“ darfst du fragen: „Was ist jetzt? Was brauche ich, was brauchen andere? Wohin will ich meine Aufmerksamkeit, meine Kraft und meine Liebe jetzt geben?“ Viele Menschen äußern Sorge über die gegenwärtige politische Situation in Deutschland und der Welt. Die Kriege in der Ukraine und in Gaza, die demokratische Kultur und die wirtschaftliche und soziale Situation im Inland belasten die Menschen, auch solche, die sich sonst eher weniger über Politik Gedanken gemacht haben. Wie gehen wir mit dem ganzen Chaos in der Welt um, das gefühlt seit Corona nicht mehr aufhören will?
Bevor wir uns dieser Frage zuwenden können, ist es wichtig sich zu fragen: bin ich bereit, mich selbst als Teil des Chaos zu sehen, das ich außen sehe? Oder hänge ich an der Vorstellung, ich sei doch im Grunde friedliebend und vernünftig, und die bösen Machthaber und die undemokratischen Kräfte sind da draußen? Wenn ich mich selbst aus dem, was in der Welt geschieht, herausrechne, mache ich es mir einfach. Ich tue so, als habe Polititk nur etwas mit Politikern und Parteien zu tun. Doch in Wirklichkeit ist Politik ein Aspekt des Lebens, der uns alle betrifft, und jeder nimmt dazu auf die ein oder andere Weise Stellung. Dies anzuerkennen, ist der erste Schritt auf dem Weg, sich wirklich mit dem Chaos in der Welt zu befassen. Politik hat mit Macht zu tun und Macht ist etwas, das wir alle haben. Ich habe eine gewisse Macht über mich selbst, meine Gedanken, Gefühle und Handlungen. Ich habe einen gewissen Einfluss darauf, wie ich mit meinem Körper umgehe, mit meiner Zeit und natürlich auch mit wie ich mit anderen Menschen umgehe. So wie ich die Macht habe, mich zu verletzen oder zu schonen, habe ich die Macht, andere zu verletzen oder zu schonen, Ich kann aufmerksam oder achtlos, interessiert oder gleichgültig auf andere zugehen. Macht ist mir gegeben. Ich kann meine Macht verantwortlich und einfühlsam oder rücksichtslos und egoistisch einsetzen. Die große Politik da draußen ist also nur ein Spielfeld der Macht. Die Phänomene der großen Politik erscheinen uns weit weg, doch in Wirklichkeit sind sie ganz nah. Denn die Politik da draußen ist nur ein Spiegelbild der Politik in uns und umgekehrt. Ein Beispiel: In uns selbst gibt es Meinungsverschiedenheiten. Ich habe vielleicht den Wunsch, mehr für meine Gesundheit zu tun, aber wenn ich abends von der Arbeit nach Hause komme, bin ich zu müde. Dann sagt die eine Stimme „Geh joggen“, die andere sagt „Nein, das ist mir zu viel“. Die beiden Stimmen streiten und machen sich Vorwürfe. „Du bist ein Schweinehund, deinetwegen werden wir immer träger“. Da sagt die andere Seite „Und du bist ein ewiger Antreiber, ein Perfektionist und Spaßverderber“. Was da in mir geschieht, ist also ein Kampf um Macht und Einfluss. Keine der Seiten will nachgeben. In meiner Psyche und damit auch in meinem Körper tobt ein Machtkampf. Es wird mit allen Tricks gearbeitet. Erst wird es mit Manipulation und Bestechung probiert: „Du kriegst auch ein Bierchen nachher, wenn du dich jetzt zum Training aufraffst.“ Dann versucht man es mit Gehirnwäsche: „Du willst es doch selbst, du fühlst dich doch nicht wohl, wenn du jetzt faul auf der Couch herumliegst.“ Und schließlich geht man zu Zwang und Disziplinierung über: „Ich melde uns jetzt zum Fitnessstudio an, das kostet richtig viel, dann müssen wir mindestens zweimal die Woche was machen, hörst du?“ So wie es in mir Machtkämpfe gibt, so gibt es da draußen Machtkämpfe. In Arbeitsteams, im Kirchengemeinderat, in Eigentümersammlungen, Mitgliederversammlungen oder Bürgerinitiativen und natürlich auch im Landesparlament, im Bundestag und auf der Bühne der internationalen Politik. Überall wo es Menschen gibt, gibt es auch Differenzen und damit auch Machtfragen: Wie begegnet die Macht der einen Stimme der Macht der anderen, abweichenden Stimme? Wie begegnen sich die Unterschiede in mir und wie begegnen sich die Menschen in ihren Unterschieden? Nun gibt es eine lange Geschichte, in der sich politische Systeme entwickelt und verändert haben. Jedes System hat die Machtfrage anders beantwortet. In einer Monarchie ist die Macht anders verteilt als in einer Demokratie. Aber selbst wenn wir demokratische Systeme betrachten, gibt es unter ihnen beträchtliche Unterschiede. „Die Demokratie“ gibt es nicht. Auch in mir gibt es eine Geschichte, wie ich mit meiner Macht umgehe. In der Schule war ich vielleicht schüchtern, später wurde ich selbstbewusster beim Vertreten meiner Interessen. Vielleicht habe ich einmal achtlos Gewalt ausgeübt und daraus gelernt. Vielleicht habe ich mich für meinen Beruf, für meine Familie, für Geld aufgeopfert und alle inneren Zweifel brutal beiseite geschoben, so lange, bis es in mir eine Oppositionspartei aufstand und die Regierung stürzte. Wenn wir also vom Chaos in der Welt sprechen, dann tun wir das, weil wir das, was gerade geschieht, vor dem Hintergrund unserer ganz eigenen Vorstellungen und Werte für unnormal, unnatürlich oder unmenschlich halten. Wir sind jedoch Teil der Situation, die wir kritisieren. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir uns selbst als „gut“ und „richtig“ und andere als „böse“ und „falsch“ bezeichnen. Es mag ja sein, dass da Chaos ist. Ich kann das gut nachfühlen. Doch der Grund für das Chaos liegt nicht nur da draußen, er liegt in mir und in uns. Der Psychoanalytiker C. G. Jung spricht hier vom Schatten, den wir alle in uns tragen, dem verdrängten Unbewussten in uns. Wenn wir nicht lernen, unsere eigenen Schattenseiten wahrzunehmen und im bewussten inneren Dialog zu wandeln, dann sind wir gezwungen, diesen Schatten auf andere Menschen und Situationen zu projizieren und ihn dort zu bekämpfen. Denn was kann ich tun, wenn das eigentliche Problem, die Ursache für das Chaos, beim andern liegt - bei einem bösen Dikator, einem autoritären System, einer extremen Partei, einer machthungrigen Elite? Ich kann nichts tun, und diese Ohnmacht ist es denn auch, die die Grundlage für alle Strategien abgibt, das Chaos in Ordnung zu bringen. Wenn „der andere“ schuld ist, dann fühle ich mich in meiner Ohnmacht gerechtfertigt, „den anderen“ zu verurteilen, ihn auszugrenzen oder zu bekämpfen. Der heilige Krieg wird immer von denen geführt, die sich vorher selbst heilig gesprochen haben. Das hat der amerikanische Dichter Charles Bukowski bereits 1966 in seinem Gedicht „The Genius of the Crowd“ auf den Punkt gebracht: „Und am besten morden die, die den Mord verdammen, Und am besten hassen die, die Liebe predigen, Und den besten Krieg führen am Ende die, die den Frieden predigen.“ Wir finden dasselbe Muster: Verdrängung des eigenen Schattens, Projektion des Schattens auf andere und Bekämpfung des Schattens im anderen - nicht nur in der Politik und im gesellschaftlichen Leben. Im privaten und beruflichen Leben ist es ähnlich. Auch hier führt die Betrachtung, das Problem liege beim anderen und nur beim anderen, zur Ohnmacht, die wiederum die Grundlage für den angstvollen Rückzug oder den „heiligen Krieg“ gegen den Schuldigen ist. Wenn die Ehe zerbricht, ist der egoistische Mann oder die egoistische Frau schuld, im Beruf ist der manipulative Chef oder der intrigante Kollege schuld. Wenn uns etwas Schmerzhaftes widerfährt, haben wir das intensive Bedürfnis, jemanden schuldig zu sprechen. Wenn dich also beim nächsten Mal das Chaos in der Welt überwältigt und dir Sorgen macht, dann halte einmal inne. Vielleicht ist es ja gut, wenn wir das Chaos einmal als solches wahrnehmen, statt es wie früher zu verdrängen. Denn es ist ja nicht so, dass es vor Corona, Ukraine und Gaza keine Gewalt und Not gegeben hätte auf der Welt. Sehen wir also einmal die Tatsache, dass wir das Chaos erkennen und uns daran stören, als ein Signal des Aufmerkens und Aufwachens. Dann sind wir vielleicht motiviert, die Schuld nicht nur außen zu suchen, sondern uns auch selbst zu fragen: Was ist mein eigener Beitrag zum Chaos in der Welt? Die Gedanken, die ich denke, die Gefühle, denen ich Raum geben, die Energien und Handlungen, die ich in die Welt setze - wie wirkt das alles in dieses Chaos hinein? Habe ich wirklich nichts mit dem zu tun, was da draußen geschieht? Und wenn wir bei dieser Frage ratlos aus der Wäsche schauen, unwillig den Kopf schütteln oder zerstreut nach dem Handy greifen, dann finden wir vielleicht in dieser Reaktion einen Hinweis darauf, warum das Chaos nach so langer Zeit immer noch da ist. Bei manchen Infektionskrankheiten ist es so: Wenn ich unvorsichtig bin (oder einfach nur Pech habe), gefährde ich nicht nur mich, sondern auch andere. Mit psychischen Schmerzen ist es auch so. Warum haben wir das bloß vergessen?
Neulich - ich bin mitten in einem Gespräch - taucht dieses Gefühl in der Brust auf. Etwas, das ich gehört habe, tut mir weh. Ich bin gekränkt, merke ich. Ich will mich dagegen wehren, will es mir ausreden. So schlimm kann es doch gar nicht sein. Du hast gar keinen Grund. Doch es hilft nichts, der Schmerz bleibt. Vielleicht, so denke ich, geht er ja weg, wenn ich ja einfach auf andere Gedanken komme, Sport mache, fernsehe oder eine Nacht drüber schlafe. Kann sein, dass das funktioniert. Oder auch nicht. Manche Schmerzen gehen einfach nicht weg. Sie sind irgendwann gekommen und sind immer wieder da, manchmal ganz plötzlich. Will ich meinen Schmerz kennenlernen? Bin ich bereit, ihm - oder besser uns - etwas von meiner kostbaren Zeit zu opfern? Will ich ihm zuhören, auch wenn er zunächst eher einsilbig oder scheu auf meine Fragen antwortet? Eins ist sicher. Wenn ich mit meinem Schmerz nicht ins Gespräch komme, wird er mir dennoch Spannung verursachen und diese Spannung muss dann irgendwohin. Das ist ein Lebensgesetz: Energie steht nicht still. Auch unterdrückter und verleugneter Schmerz legt sich nicht schlafen, sondern er gräbt sich Tunnel, sickert durch, pocht, bohrt und stört. Er macht mich krank, raubt mir den Schlaf oder treibt mich in den Alkohol. Oder er schlägt durch auf dich, weil ich mir einrede, dass du an meinem Schmerz schuld bist, dass du es bist, ohne den mein Leben schmerzfrei und glücklich wäre. Ob als autoaggressiver oder nach außen projizierter Schmerz, er greift an - mich oder dich. Deswegen sind psychischen Schmerzen - von den kleinen Alltagskränkungen bis zu den biografischen Traumata - keine Privatsache. Waren es nie und können es gar nicht sein. Psychische Schmerzen wirken immer nach innen und außen. Gefühle sind hochansteckend. Die unbewusste Weitergabe unverarbeiteter Psychotraumata an ihre Kinder, denen sie bewusst beileibe nichts Böses antun wollen, sind eine harte Realität des Lebens. Transgenerationale Psychotraumata werden, wenn sie nicht aufgelöst und geheilt werden, sogar über viele Generationen hinweg das Leben der übernächsten Generationen überschatten. Wir sind als Menschen alle miteinander zu einem lebendigen Ganzen verwoben. Mein Schmerz kann ganz leicht zu deinem Schmerz werden, und dein Schmerz kann ganz leicht zu meinem werden. Was tun? Sollen wir ein Gesetz verabschieden, das es verbietet, psychischen Schmerz einfach runterzuschlucken und zu verdrängen? Das Gesetz zur Verhütung von Transmissionen verdrängter psychischer Schmerzen, kurz Transmissionsverhütungsgestz (TrVerG) genannt. Wenn sich eine solidarische Mehrheit im Parlament dafür findet, werden in Fußgängerzonen, auf öffentlichen Pätzen, in Gemeindesälen und psychotherapeutischen Praxen Bekenntniskabinen aufgestellt, in denen die Menschen einmal jährlich geschultem Personal ihr Leid offenbaren müssen, damit sie nicht zu Serienkillern werden. Natürlich müsste es dann auch vierteljährliche Boosterbeichten geben, um der zwischenmenschlichen Aggresion keine Chance zur Ausbreitung zu geben. Klingt das absurd? Wenn es um psychischen Schmerzen geht, herrscht (bei Erwachsenen) das Prinzip der Selbstverantwortung. Das ist gut so. Die Beichtpflicht der katholischen Kirche darf als gescheitert gelten; sie hat die Menschen nicht frommer gemacht. Im Gegenteil, sie hat in die Seelen der Menschen quälende Schuldgefühle gepflanzt. Ebensowenig werden die Menschen durch zwangsweise verhängte Infektionsschutzmaßnahmen gesünder. Von den Nebenwirkugen einer Impfung mal ganz abgesehen, ist allein das Übergehen der gesundheitlichen Selbstbestimmung verletzend und entwürdigend. Auch in Gesundheitsdingen muss das Prinzip der Selbstverantwortung walten. Wenn du deine Knochen bei riskanten Skimanövern riskiert, wenn du durch Bewegungsmangel Fettleibigkeit und durch eine falsche Ernährung dein Diabetesrisiko steigerst, ist das deine Sache. Was geschieht, wenn das Prinzip der Selbstverantwortung übergangen wird? Wenn du für deine Verletzbarkeit keine Veranwortung übernimmst, sondern es mir auferlegst, dass dir kein Schmerz widerfahre, dann ist damit eine klassiche psychotraumatisierende Konstellation geschaffen. Solche Konstellationen sind jedem Therapeuten wohlbekannt: Vater oder Mutter unglücklich (meist beide), das Kind merkt das, fühlt sich schuldig und widmet seine Energie fortan der Rettung der geliebten Eltern. Das Resultat ist, dass das Kind seine Eltern doch nicht retten kann, dann aber sein eigenes Leben nicht lebt. Es wird darüber tiefen Schmerz empfinden und man nur hoffen, dass es diese seelische Wunde als Erwachsener bemerkt und sich um Heilung des Schmerzes kümmert. Denn wenn es das nicht tut und selbst wieder Kinder bekommt, geht die leidvolle Geschichte in die nächste Generation über. So ansteckend sind psychische Leiden - Viren sind harmlos dagegen. Mein Schmerz ist zuerst mein Schmerz und dein Schmerz ist zuerst dein Schmerz. Wenn ich meinen Schmerz zu mir nehme und mich seiner Botschaft öffne, dann kann ich ihn überwinden. Er löst sich auf in der Wärme der Empathie und im Licht der Klarheit. Jeder kümmere sich, so gut er kann, um sich selbst und seine Bedürfnisse, körperlich und geistig-seelisch. Er mag sich dazu auch an andere wenden, die ihn dabei unterstützen, den Schmerz zu lösen und zu gesunden. Hier, aber erst hier, trage dann auch ich, wenn ich in welcher Form auch immer von dir um Hilfe gebeten werde, eine Mitverantwortung. Hier wird dein Schmerz auch zu meinem Schmerz. Stellen Sie sich vor, eine Gruppe von 30 Menschen kommt zusammen. Sie lassen sie über ein aktuelles politisches Thema diskutieren. Es geht heiß her - die Wortfetzen fliegen. Nach einer Weile schält sich aber so etwas wie eine Mehrheitsmeinung heraus, von der einige wenige Menschen abweichen. Die Mehrheit beschließt nun im Gefühl gerechter Empörung, die Abweichler auszuschließen: "Wir wollen mit euch nichts zu tun haben, denn alles was wir sagt verletzt unsere Werte und Einstellungen!" Die Abweichler haben keine Chance, sie müssen gehen und lassen 25 Menschen zurück, die sich sicher sind, richtig gehandelt zu haben. Was geschieht daraufhin in dem Raum mit den verbliebenen 25 Menschen? Die Menschen dieser Gruppe werden nach einem anfänglichen Gefühl der Einigkeit ("Denen haben wir es gezeigt!") merken, dass sie durchaus nicht in allen Dingen einer Meinung sind. Alle möglichen Unterschiede, Gegensätzlichkeiten, Missverständnisse und Konflikte werden auftauchen. Und falls es zu einer großen Debatte kommt, wird sich wieder eine Mehrheitsmeinung und (mindestens) eine abweichende Meinung herausbilden. Dann könnten auch diese Abweichler ausgeschlossen und somit wieder die Mehrheitsmeinung als die einzig richtige Meinung etabliert werden. Dieser Prozess würde nun immer so weiter gehen, bis die anfänglich große Gruppe in kleine untereinander zerstrittene Untergruppen fragmentiert ist.
Ausgrenzung funktioniert nicht, denn sie führt dazu, dass eine wesentliche kreative Funktion einer Gemeinschaft - die spontane Diversifikation der Sichtweisen und das Entstehen produktiver Konflikte - unterdrückt und ein Zwang zur Anpassung etabliert wird. Überall dort, wo Minderheitenmeinungen abgewertet und ausgegrenzt werden, geschieht nichts weiter als eine Verleugnung der Realität. Ein Problem, über das nicht mehr kontovers und achtungsvoll (d. h. ohne Androhung von Aussschluss aus der Gemeinschaft) diskutiert wird, wird vom Machtkampf verdrängt und bleibt somit ungelöst. Was für kleine Gruppen gilt, ist auch auf die Gesellschaft anwendbar. Unsere Gesellschaft ist gespalten in Bezug auf das Thema der Pandemie und der Corona-Maßnahmen. Diese Spaltung kann nicht dadurch überwunden werden, dass Mehrheiten sich darüber verständigen, Minderheiten auszugrenzen. Freie Meinungsäußerung und die volle meinungsunabhänige Teilhabe am gesellschaftlchen Leben sind wesentlich für den Erhalt einer Gesellschaft. Sind Sie damit einverstanden sind, dass Menschen, die in der Corona-Thematik anderer Meinung sind als Sie, an freier Meinungsäußerung oder der Ausübung ihres Berufes gehindert werden? Sind Sie damit einverstanden, dass Ungeimpfte in Zukunft vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden sollten? Denken Sie gut darüber nach. Jede Mehrheit braucht die Minderheit. Um Einigkeit zu erlangen, sind die Uneinigen notwendig. Solidarisierung und Isolation
Botschaft: Gemeinsam schaffen wir das - haltet euch voneinander fern! Der Kampf gegen eine vermeintlich außergewöhnliche Infektionsgefahr wird als eine Sache nationaler Solidarisierung dargestellt. Wer sich im öffentlichen Raum bewegt, kann sich den Appellen an unsere Verantwortlichkeit und Gemeinschaftlichkeit nicht entziehen. Ob an U-Bahn-Haltestellen, auf Plakatwänden, über Lautsprecher in der Bahn und Leuchttafeln an Autobahnen, überall heißt es: "Gemeinsam schaffen wir das!" Der Ruf nach Solidarisierung geht jedoch einher mit der Aufforderung, sich zu vereinzeln. Das propagierte Mittel zur Krisenbewältigung ist das "social distancing", also nicht nur das körperliche Abstandhalten, sondern auch das Reduzieren von sozialen Kontakten und Begegnungen jedweder Art. Vereinzelung ist für Psyche und Körper des Menschen jedoch schädlich. Wir brauchen Gemeinschaft, Nähe und Beziehung. Wir sind keine Maschinen, die man für ein paar Monate auf sozialen Ruhemodus schalten kann. Gemeinschaftlichkeit setzt echten Konsens voraus, aber was hier propagiert wird, ist eine unmenschliche Isolationsmaßnahme im Namen der Gesundheit. Überlegen Sie sich, was diese Vereinzelung für alte Menschen, für Kranke, für Menschen in Pflegeheimen, für Kinder, für psychisch belastete Menschen bedeutet. Wurden diese Menschen gefragt, ob sie auch das Gefühl haben, "es zu schaffen"? Die Entscheidung darüber, was verantwortlich und dem Allgemeinwohl dienlich ist, liegt nicht bei den Menschen unserer Gesellschaft, sondern bei der Bundesregierung, die sich in gewissen Abständen per Videokonferenz mit den Ländern darüber verständigt, wer sich wann wie wo mit wem treffen und nicht treffen darf, und bei den Gesundheitsämtern, Schulleitungen und den unzähligen Verordungsgebern auf Organisations- und Institutionsebene, die ihre Zielgruppen mit den neuesten Corona-Regeln auf dem laufenden halten. Diese "Gemeinschaftlichkeit" ist eine Pseudogemeinschaftlichkeit, denn sie kommt von oben und fordert Gehorsam und Gefügigikeit ein. Isolationsmaßnahmen schwächen das Immunsystem, machen anfällig für Stress, Einsamkeit, Depression und Aggression. Es ist verrückt, wenn im Namen des Gemeinwohls auf Monate hinweg die soziale, kulturelle und kommunikative Infrastruktur der Gesellschaft (Freundeskreise, Vereine, Chöre, Gottesdienste, Theater, Cafes, Restaurants etc.) ausgesetzt wird. Wer denkt, dass dieses Modell der Krisenbewältigung vernünftig und gesundheitsdienlich sei, hat vielleicht noch nicht bemerkt, wie gestresst, belastet, verängstigt und unglücklich viele Menschen sind. Es ist verrückt, im Namen des Gemeinwohls und der Gesundheit die Menschen voneinander dauerzuisolieren, und die Verrücktheit geht noch einen Schritt weiter, wenn die Kritiker dieser Maßnahmen (mehrheitlich normale Bürger wie Sie und ich, unter ihnen zahlreiche Wissenschaftler und Experten) als unverantwortlich, unsolidarisch und alarmistisch bezeichnet und so aus der Gemeinschaft der Verantwortungsvollen ausgegrenzt werden. Mein Eindruck ist, dass diese Verrücktheit immer mehr auch von denen gespürt wird, die in Bezug auf die Infektionsgefahr anderer Meinung sind als die Kritiker der Corona-Maßnahmen. Tatsächlich geht es hier um einen gesellschaftlichen Grundkonsens: Wollen wir in einer soziel fragmentierten, digital durchstrukturierten Gesellschaft leben oder in einer offenen, freien Gesellschaft, in der die Menschen einander sehen, hören, spüren und berühren können? (Fortsetzung folgt.) |
Guido Ingendaay
Ich schreibe zu persönlichen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Themen. Die gemeinsame Perspektive ist das authentische Leben, das die Möglichkeiten innerer Entfaltung, echter Begegnung und Gemeinschaftlichkeit erforscht. Mehr zu mir finden Sie hier.
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November 2024
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