Irgendwann habe ich es gemerkt und dann kamen mir diese Worte in den Sinn. Ich wiederholte sie, so als müsste ich mich davon überzeugen, dass das Offensichtliche nicht vielleicht doch eine Täuschung war. Doch die Rechnung ergab auch nach mehrmaliger Prüfung dasselbe Ergebnis: Rückzug funktioniert nicht. Für mich, einen Einzelkämpfer, war das eine überwältigende Neuigkeit.
Natürlich gibt es Situationen, in denen Rückzug eine gute Sache ist. Wenn sich eine Beziehungssituation verfährt und die Gefühle heftig, kompliziert und unberechenbar sind, können Distanz und Zurückhaltung ein Weg sein, sich dem Getümmel der wechselseitigen Zuschreibungen und Projektionen zu entziehen, sich vor Eskalationen zu schützen und zu beruhigen. Doch Rückzug als seelischer Dauerzustand, als rettende Insel oder schier vorherbestimmtes Kellerdasein ist tatsächlich keine Lösung. Denn wir nehmen alles, was sich zwischen mir und dir, zwischen mir und euch, zwischen mir und denen je ereignet hat und vielleicht immer noch ereignet mit in die Zurückgezogenheit. Ich bleibe immer in Beziehung, ob ich mir dessen bewusst bin oder nicht. Das klingt erst einmal deprimierend, so als seien Beziehungserfahrungen wie eine Klette, die wir gezwungenermaßen mit uns schleppen ohne Aussicht auf echten Neuanfang. Doch die Sache hat eine helle Seite. Denn die Begegnung mit anderen ist eben das, was uns überleben lässt, und gerade weil sie so wichtig ist, möchte die Natur, dass wir sie pflegen und gut mir ihr umgehen. Nur weil ich mir den Magen mit falschem Essen verderben kann, muss ich nicht lebenslang aufs Essen verzichten. Warum sage ich, dass uns Beziehung überleben lässt? Allein schon der Blick auf die ersten Lebensjahre lässt uns erkennen, wie intensiv das Überleben des Kindes von seinen Eltern - den anderen - abhängt. Dies Abhängigkeit besteht, ob die Beziehung als förderlich oder schädlich erlebt wird; das Kind nimmt vieles hin, solange es nur an der Beziehung festhalten kann. In den ersten Lebensjahren sind wir seelische Klammeräffchen. Später nimmt die ausschließliche Abhängigkeit von bestimmten einzelnen Personen ab, doch was bleibt ist das grundlegende Angewiesensein unseres Nervensystems auf andere Nervensysteme, die wahrnehmen, fühlen und kommunizieren können. Wir brauchen die Resonanz, den Spiegel, den Austausch mit anderen lebenden Wesen. Hier traf mich, den Einzelgänger und Einzelkämpfer (nicht aus Neigung, sondern aus Not), die blitzartige Erkenntnis. Ich kann nicht wissen, wer ich bin, wenn ich ohne ein echtes Du bleibe. Ich brauche dich, um mich zu entdecken, zu spüren, zu erkennen. Dabei muss der du-lose Zustand überhaupt kein Zustand bewusster äußerer Abgeschiedenheit sein. Es ist, wie ich meine, vor allem der Zustand unbewusster innerer Du-losigkeit, der heutzutage so viel Verwirrung, Schmerz und Konflikt stiftet. Denn wenn wir einander in Begegnung und Austausch zum Leben brauchen (und auch in den frühen Jahren geht es dabei nie nur um das „rein physische“ Überleben: gruselige Experimente, die mit Kleinkindern angestellt wurden, ergaben, dass Babys regelrecht verkümmerten, wenn man sie ohne Ansprache, Wärme und Zuwendung fütterte und versorgte), und wenn es dabei vor allem auf die innere Qualität dieser Begegnung ankommt (bloßes Zusammensein reicht nicht), dann muss selbst der eingefleischte Rückzügler zugeben, dass das Problem schwieriger Beziehungen sich nicht durch Vermeidung lösen lässt. Ich brauche echte Begegnung, also eine Beziehung, in der ich mich ganz in Verbindung mit dem anderen erfahre. Nicht nur Rückzug funktioniert nicht. Auch Verstellung, Rollenspiel und Anpassung funktionieren nicht. So wenig wie Beziehungskontrolle, durch die der andere gezwungen werden soll, so zu sein, wie ich ihn haben will. Ob Rückzug, Anpassung oder Dominanz - sie alle können das natürliche tiefgreifende Bedürfnisse nach Kommunikation, Berührung, wechselseitiger Wahrnehmung, Wertschätzung und Liebe nicht befriedigen. Wir brauchen echte Begegnung.. Jetzt ist das Leben da draußen in das Leben hier drinnen eingebrochen und hat alles auf den Kopf gestellt. Gerade auch die Beziehungen unter den Menschen. Plötzlich gibt es jede Menge Beschlüsse von oben und somit das Gefühl, Empfänger (einsichtig oder widerwillig?) von Anordnungen und Vorschriften zu sein. Es gibt den Rückzug in die Privatsphäre, das Ausweichen auf dem Bürgersteig, das Vermeiden des Blickes in das schutzmaskenfremden Gesicht. Es gibt Denunziation und Zensur, Widerstand und Protest.
Im Wald sehe ich viel mehr Menschen als sonst, vor allem auch andere Menschen als sonst, nicht nur die Hundehalterinnen, sondern auch Menschen, die sonst im Büro wären. Im Vorbeijoggen schnappe ich Gesprächsfetzen über C. auf, Argumente und Gefühle, die - so mein Eindruck - nicht so ganz ihren wahren Adressaten erreichen. Daher auch mein Gefühl einer großen Ratlosigkeit und Ohnmacht. Manche tun trotzig so, als sei alles in Ordnung, als habe man es eben kaum anders machen können. Gespräche über C. sind inzwischen schwierig geworden. Es haben sich Lager gebildet. Das ist einerseits verständlich, weil der Mensch zunächst Gleichgesinnte sucht, doch andererseits auch heikel, weil Lagerbildung dazu führen kann, dass man nicht mehr miteinander redet, sondern nur noch übereinander. Was braucht es zu gelingenden Gesprächen? Die Beziehungsebene hat eindeutig Vorrang vor der Sachebene. Wenn die Beziehung zwischen Menschen gut sind, dann können sie auch die Sache angehen. Ein Mann und Frau, deren Beziehung gestört ist, können noch nicht einmal ein Regal zusammen aufbauen. Was sind solche „guten“ Beziehungen? Es sind Beziehungen, die nicht von Anmaßung und Unterwerfung, Dominanz und Anpassung, von Verstellung und Manipulation geprägt sind, sondern von Achtung und Gegenseitigkeit, von Selbstbestimmung und Solidarität, von Echtheit und Toleranz. Das gilt für meine „kleine“ private und berufliche Welt wie für die „große“ Welt von Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Doch Vorsicht! Gute Beziehung lässt sich nur bedingt durch gute Kommunikation verwirklichen. Gespräche gelingen nicht automatisch dadurch, dass die korrekte Kommunikation zum Einsatz kommt. Viel wichtiger ist die innere Haltung, die Wahrheit der inneren Absicht. Worte mögen geschickt oder ungeschickt gewählt, die Rede kann grob oder geschliffen sein - wer ist wirklich ernst meint mit der Begegnung, wird auch dann verstanden, wenn er sich etwas im Ton vergreift. Solche offenen, freien und echten Begegnungen wünsche ich mir. Und das Gute daran - dafür kann jeder und jede jederzeit etwas tun. |
Guido Ingendaay
Ich schreibe zu persönlichen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Themen. Die gemeinsame Perspektive ist das authentische Leben, das die Möglichkeiten innerer Entfaltung, echter Begegnung und Gemeinschaftlichkeit erforscht. Mehr zu mir finden Sie hier.
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September 2024
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