Inmitten dessen, was wir jetzt als die "Corona-Krise" oder "epidemische Lage nationaler Tragweite" zu bezeichen gewohnt sind, stellt sich die Frage, wie es uns eigentlich geht, die wir diese Situation erleben. Wie sieht es in unserem Innern aus, in unserer Seele? Wie fühlen und denken wir wirklich, jenseits des großen Meinungsstreits? In letzter Zeit habe ich Menschen oft davon reden hören, dass wir "in einer verrückten Zeit" leben und dass gerade "alles verrückt" sei. Diese beiläufig wie ein Kommentar zum Wetter geäußerte Zeitdiagnose findet leicht Zustimmung. Ob Menschen eher die vom Virus ausgehende Gesundheitsgefahr oder die von den Corona-Maßnahmen ausgehende Gefahr für Demokratie und Bürgerrechte hoch einschätzen - wir leben "in verrückten Zeiten".
Woher kommt dieses "verrückte" Gefühl? Ich meine, dies liegt daran, dass wir seit Beginn der Corona-Krise mit Botschaften konfrontiert werden, die keinen Sinn ergeben, die also tatsächlich logisch unvereinbar und somit verrückt sind. Ich möchte in diesem und weiteren Artikeln diesem sozialpsychologischen Phänomen der "verrückten Zeit" nachgehen und erforschen, welche Folgen sich daraus für unser individuelles und gesellschaftliches Leben ergeben. Dramatisierung und Normalisierung Botschaft: Es ist sehr schlimm - gewöhnt euch dran! Von Anfang an wurde die Gefahr, die sich durch ein neuartiges Virus für die gesamte Bevölkerung und unser Gesundheitssystem ergebe, als katastrophal groß dargestellt. "Wie im Krieg", "Horrorszenario", "unvorstellbares Leiden" - es gab kein Superlativ, der ausgelassen wurde. Dazu kamen schockierende Bilder und mathematische Kurven, die vor vielen Tausend, ja Millionen Toten warnten. Seltsamerweise kommunizierte die Regierung jedoch schon bald, dass die Bevölkerung sich nun an eine "neue Normalität" zu gewöhnen habe. Abstandsgebote, Kontaktreduzierung, Besuchsverbote, Reiseverbote, Geschäftsschließungen, Einschränkungen des kulturellen und privaten Lebens - wir sollten uns einfach dran gewöhnen. So veröffentlichte beispielsweise die Tagesschau-Redaktion am 04.05.20 eine Chronik zur Corona-Krise unter dem Titel "Ausnahmezustand als neue Normalität". Die Frage, warum denn ein Ausnahmezustand zur Normalität werden solle, wird hier gar nicht mehr gestellt. Die Botschaft "Es ist sehr schlimm - gewöhnt euch dran!" ist bereits gedankenlos verinnerlicht. Schon im Frühling wurden wir vom Gesundheitsministerium in einer allgegenwärtigen Plakataktion auf einen Sommer nach den AHA-Regeln eingestimmt. Die "Alltagsmaske" wurde trotz rückläufiger (als "Infektionszahlen" deklarierter) positiver Testzahlen in vielen Situationen des öffentlichen Lebens verpflichtend. Der Begriff der "Alltagsmaske" suggerierte uns, dass es sich gar nicht um ein medizinisches Produkt handelt, sondern um ein normales Element gesellschaftlicher Wirklichkeit, ebenso unhinterfragbar wie Stau, Wartenschlangen und Regenwetter. Doch Dramatisierung und Normalisierung passen nicht zusammen, sie ergeben keinen Sinn. Wenn eine Lage außergewöhnlich gefährlich ist, kann sie nicht gleichzeitig normal sein. Die gesunde Reaktion auf eine bedrohliche Situation ist das Bestreben, sie zu überwinden und schnell zum Ruhegleichgewicht zurückzukehren. Durch die Rede von der "neue Normalität" wird der Impuls nach rascher Überwindung des Ausnahmezustands jedoch unterdrückt, wird der Ausnahmezustand zur Normalität erklärt. (Fortsetzung folgt.) Kommentare sind geschlossen.
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Guido Ingendaay
Ich schreibe zu persönlichen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Themen. Die gemeinsame Perspektive ist das authentische Leben, das die Möglichkeiten innerer Entfaltung, echter Begegnung und Gemeinschaftlichkeit erforscht. Mehr zu mir finden Sie hier.
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November 2024
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