Stellen Sie sich vor, eine Gruppe von 30 Menschen kommt zusammen. Sie lassen sie über ein aktuelles politisches Thema diskutieren. Es geht heiß her - die Wortfetzen fliegen. Nach einer Weile schält sich aber so etwas wie eine Mehrheitsmeinung heraus, von der einige wenige Menschen abweichen. Die Mehrheit beschließt nun im Gefühl gerechter Empörung, die Abweichler auszuschließen: "Wir wollen mit euch nichts zu tun haben, denn alles was wir sagt verletzt unsere Werte und Einstellungen!" Die Abweichler haben keine Chance, sie müssen gehen und lassen 25 Menschen zurück, die sich sicher sind, richtig gehandelt zu haben. Was geschieht daraufhin in dem Raum mit den verbliebenen 25 Menschen? Die Menschen dieser Gruppe werden nach einem anfänglichen Gefühl der Einigkeit ("Denen haben wir es gezeigt!") merken, dass sie durchaus nicht in allen Dingen einer Meinung sind. Alle möglichen Unterschiede, Gegensätzlichkeiten, Missverständnisse und Konflikte werden auftauchen. Und falls es zu einer großen Debatte kommt, wird sich wieder eine Mehrheitsmeinung und (mindestens) eine abweichende Meinung herausbilden. Dann könnten auch diese Abweichler ausgeschlossen und somit wieder die Mehrheitsmeinung als die einzig richtige Meinung etabliert werden. Dieser Prozess würde nun immer so weiter gehen, bis die anfänglich große Gruppe in kleine untereinander zerstrittene Untergruppen fragmentiert ist.
Ausgrenzung funktioniert nicht, denn sie führt dazu, dass eine wesentliche kreative Funktion einer Gemeinschaft - die spontane Diversifikation der Sichtweisen und das Entstehen produktiver Konflikte - unterdrückt und ein Zwang zur Anpassung etabliert wird. Überall dort, wo Minderheitenmeinungen abgewertet und ausgegrenzt werden, geschieht nichts weiter als eine Verleugnung der Realität. Ein Problem, über das nicht mehr kontovers und achtungsvoll (d. h. ohne Androhung von Aussschluss aus der Gemeinschaft) diskutiert wird, wird vom Machtkampf verdrängt und bleibt somit ungelöst. Was für kleine Gruppen gilt, ist auch auf die Gesellschaft anwendbar. Unsere Gesellschaft ist gespalten in Bezug auf das Thema der Pandemie und der Corona-Maßnahmen. Diese Spaltung kann nicht dadurch überwunden werden, dass Mehrheiten sich darüber verständigen, Minderheiten auszugrenzen. Freie Meinungsäußerung und die volle meinungsunabhänige Teilhabe am gesellschaftlchen Leben sind wesentlich für den Erhalt einer Gesellschaft. Sind Sie damit einverstanden sind, dass Menschen, die in der Corona-Thematik anderer Meinung sind als Sie, an freier Meinungsäußerung oder der Ausübung ihres Berufes gehindert werden? Sind Sie damit einverstanden, dass Ungeimpfte in Zukunft vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden sollten? Denken Sie gut darüber nach. Jede Mehrheit braucht die Minderheit. Um Einigkeit zu erlangen, sind die Uneinigen notwendig. Kommentare sind geschlossen.
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Guido Ingendaay
Ich schreibe zu persönlichen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Themen. Die gemeinsame Perspektive ist das authentische Leben, das die Möglichkeiten innerer Entfaltung, echter Begegnung und Gemeinschaftlichkeit erforscht. Mehr zu mir finden Sie hier.
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November 2024
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