Konflikte gehören zum Leben. Sie scheinen unvermeidlich zu sein angesichts der Unterschiedlichkeit der Menschen. Was ich will und brauche, ist nicht immer deckungsgleich mit dem, was du willst und brauchst. Wo es Regeln gibt, lassen sich Konflikte vermeiden. Im Straßenverkehr zum Beispiel. Ein Konflikt zwischen Fahrer A und Fahrer B wird nach festen Regeln gelöst. Muss sich dann nur jeder an die Regeln halten, was bekanntlich nicht immer gelingt. Die meisten Konflikte lassen sich aber nicht über Regeln lösen. Vor allem die zwischenmenschlichen Konflikte brauchen eine Offenheit für die besondere Situation, ein aktives Miteinander-Sprechen, Einander-Zuhören, ein Miteinander-Denken-und-Fühlen. Dieser Prozess lässt sich nicht in Regeln erfassen. Er ist zu vielschichtig und kann nur mit Präsenz, Einsicht und Intuition bewältigt werden.
Die Frage ist, ob wir die Tatsache anerkennen, dass Konflikte, die ungelöst bleiben, nicht einfach dadurch verschwinden, dass wir uns mit ihnen nicht mehr beschäftigen. Vielleicht hat sich A gegenüber B durchgesetzt und für ihn ist der Fall damit erledigt. Für B aber nicht und deswegen geht der Konflikt in veränderter Gestalt weiter. Wenn Konflikte ungelöst bleiben, wirken sie weiter. Es ist deswegen wichtig, zu verstehen, wie wir Konflikte lösen können. Der erste Schritt auf dem Weg zur Lösung ist die Klärung. Ein unklarer Konflikt kann nicht gelöst werden (außer durch Zufall oder Fügung). Was bedeutet Klärung? Der Konflikt erscheint auf den ersten Blick immer etwas anders, als er von seinem Wesen her ist. Das berühmte Beispiel aus der Partnerschaft ist der Streit um die Zahnpastatube: Ist es richtig, sie von hinten auszudrücken? Oder ist es erlaubt, sie von egal wo auszudrücken? Diese Sachfrage ist natürlich verbunden mit Beziehungsfragen: Wer darf hier wem sagen, was er tun soll? Wie kommen wir zusammen, wenn wir nun mal unterschiedlich sind? Könnte ich mich von meiner Position abbringen lassen und wie gefährlich wird das für mich, dir gegenüber nachzugeben – bin ich dann in deinen Augen nicht mehr so viel wert? Diese Beziehungsfragen sind nun nicht mehr so harmlos wie die Frage nach der Zahnpastatube. Es sind essentielle Fragen des menschlichen Lebens. Wenn es uns nicht gelingt, auf diese Fragen eine Antwort zu finden, die uns beiden gerecht wird, dann werden wir es nicht schaffen, die Sache mit der Zahnpastatube klar zu kriegen. Dies ist eine Gesetzmäßigkeit: Beziehungskonflikt sticht Sachkonflikt. Wenn wir den Beziehuhgskonflikt nicht lösen können, dann kommen wir unter keinen Umständen an den Sachkonflikt heran. Umgekehrt geht das schon. Wenn der Sachkonflikt ungelöst bleibt, ist es durchaus möglich, unseren Beziehungskonflikt zu lösen. Wenn wir die relative Vorrangigkeit des Beziehungskonflikts erst einmal verstehen, dann hören wir auf, uns immer wieder auf die Sachthemen zu stürzen. Denn wir werden spüren, dass dieses Sprechen über die Sachebene ein Ausweichen ist, getragen von der Furcht, den Beziehungskonflikt anzugehen. Wir haben Konflikte nicht nur im alltäglichen privaten und beruflichen Leben, wo sie uns möglicherweise lösbar erscheinen mögen. Wir erleben auch Konflikte von großem Umfang. Groß deshalb, weil dort nicht einzelne Personen, sondern jeweils viele Menschen in großen Gruppen daran beteiligt sind: Parteien, Konzerne, Regierungen, Armeen, Gewerksschaften, Lobbygruppen, Bürgervereinigungen, die ganze Gesellschaft. Die Szenerie ist unüberschaubar. Wer hat mit wem eigentlich hier einen Konflikt? Worin besteht dieser Konflikt eigentlich? Worum geht es im Kern? Diese Fragen können nicht beantwortet werden, wenn die tieferliegenden Beziehungsfragen nicht angegangen werden. Wenn zum Beispiel Menschen einander nicht mehr vertrauen können, wie sollen sie dann einen Konflikt gemeinsam lösen können? Wenn eine Gruppe vor einer anderen Gruppe Angst hat und misstrauisch ist, wie können wir dann erwarten, in der Sache weiterzukommen? Es ist an der Zeit, dass wir uns darum bemühen, die Beziehungsfragen offen anzusprechen und ihre Wirkmächtigkeit anzuerkennen. Im Privatleben, im Beruf, in der Politik, in der Gesellschaft. Wenn wir dieses Tabu nicht auflösen, werden wir die Konflikte nicht lösen können. Eine Gesellschaft, die nicht fähig ist, Konflikte zu lösen, ist jedoch dazu verurteilt, immer gewalttätiger und autoritärer zu werden. Wenn die eigentlichen Ursachen für die Konflikte, die wir miteinander haben, nicht wahrgenommen werden, wird die Spaltung der Gesellschaft weitergehen. Ein Konflikt verschwindet nicht, wenn wir ihn nicht lösen. Wir spüren ja tagtäglich die Folgen ungelöster Konflikte – unserer eigenen und der vielen, vielen ungelösten Konflikte der Vergangenheit, die unsere Vorfahren nicht zu lösen vermochten. Es ist an der Zeit, über unsere Konfliktkultur neu nachzudenken und Neues auszuprobieren. Fangen Sie am besten heute damit an, Ihre Konflikte anzuschauen. Erst die Beziehungsebene, dann die Sachebene. Und dann kommen Sie darüber ins Gespräch. Und wenn es Ihnen nicht gelingt, den Konflikt zu lösen, so können Sie ihn doch wenigstens klären, d. h. relative Klarheit darüber herstellen, worum es dabei geht, sowohl auf der Beziehungs- als auch der Sachebene. Das ist der erste Schritt. Und vielleicht können Sie ja demnächst wieder darüber ins Gespräch kommen – und dann zeigt sich Ihnen und Ihrem Gegenüber, wie sich der Knoten auflösen lässt und Sie beide gemeinsam weiter gehen könnten.
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Guido Ingendaay
Ich schreibe zu persönlichen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Themen. Die gemeinsame Perspektive ist das authentische Leben, das die Möglichkeiten innerer Entfaltung, echter Begegnung und Gemeinschaftlichkeit erforscht. Mehr zu mir finden Sie hier.
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