Bei manchen Infektionskrankheiten ist es so: Wenn ich unvorsichtig bin (oder einfach nur Pech habe), gefährde ich nicht nur mich, sondern auch andere. Mit psychischen Schmerzen ist es auch so. Warum haben wir das bloß vergessen?
Neulich - ich bin mitten in einem Gespräch - taucht dieses Gefühl in der Brust auf. Etwas, das ich gehört habe, tut mir weh. Ich bin gekränkt, merke ich. Ich will mich dagegen wehren, will es mir ausreden. So schlimm kann es doch gar nicht sein. Du hast gar keinen Grund. Doch es hilft nichts, der Schmerz bleibt. Vielleicht, so denke ich, geht er ja weg, wenn ich ja einfach auf andere Gedanken komme, Sport mache, fernsehe oder eine Nacht drüber schlafe. Kann sein, dass das funktioniert. Oder auch nicht. Manche Schmerzen gehen einfach nicht weg. Sie sind irgendwann gekommen und sind immer wieder da, manchmal ganz plötzlich. Will ich meinen Schmerz kennenlernen? Bin ich bereit, ihm - oder besser uns - etwas von meiner kostbaren Zeit zu opfern? Will ich ihm zuhören, auch wenn er zunächst eher einsilbig oder scheu auf meine Fragen antwortet? Eins ist sicher. Wenn ich mit meinem Schmerz nicht ins Gespräch komme, wird er mir dennoch Spannung verursachen und diese Spannung muss dann irgendwohin. Das ist ein Lebensgesetz: Energie steht nicht still. Auch unterdrückter und verleugneter Schmerz legt sich nicht schlafen, sondern er gräbt sich Tunnel, sickert durch, pocht, bohrt und stört. Er macht mich krank, raubt mir den Schlaf oder treibt mich in den Alkohol. Oder er schlägt durch auf dich, weil ich mir einrede, dass du an meinem Schmerz schuld bist, dass du es bist, ohne den mein Leben schmerzfrei und glücklich wäre. Ob als autoaggressiver oder nach außen projizierter Schmerz, er greift an - mich oder dich. Deswegen sind psychischen Schmerzen - von den kleinen Alltagskränkungen bis zu den biografischen Traumata - keine Privatsache. Waren es nie und können es gar nicht sein. Psychische Schmerzen wirken immer nach innen und außen. Gefühle sind hochansteckend. Die unbewusste Weitergabe unverarbeiteter Psychotraumata an ihre Kinder, denen sie bewusst beileibe nichts Böses antun wollen, sind eine harte Realität des Lebens. Transgenerationale Psychotraumata werden, wenn sie nicht aufgelöst und geheilt werden, sogar über viele Generationen hinweg das Leben der übernächsten Generationen überschatten. Wir sind als Menschen alle miteinander zu einem lebendigen Ganzen verwoben. Mein Schmerz kann ganz leicht zu deinem Schmerz werden, und dein Schmerz kann ganz leicht zu meinem werden. Was tun? Sollen wir ein Gesetz verabschieden, das es verbietet, psychischen Schmerz einfach runterzuschlucken und zu verdrängen? Das Gesetz zur Verhütung von Transmissionen verdrängter psychischer Schmerzen, kurz Transmissionsverhütungsgestz (TrVerG) genannt. Wenn sich eine solidarische Mehrheit im Parlament dafür findet, werden in Fußgängerzonen, auf öffentlichen Pätzen, in Gemeindesälen und psychotherapeutischen Praxen Bekenntniskabinen aufgestellt, in denen die Menschen einmal jährlich geschultem Personal ihr Leid offenbaren müssen, damit sie nicht zu Serienkillern werden. Natürlich müsste es dann auch vierteljährliche Boosterbeichten geben, um der zwischenmenschlichen Aggresion keine Chance zur Ausbreitung zu geben. Klingt das absurd? Wenn es um psychischen Schmerzen geht, herrscht (bei Erwachsenen) das Prinzip der Selbstverantwortung. Das ist gut so. Die Beichtpflicht der katholischen Kirche darf als gescheitert gelten; sie hat die Menschen nicht frommer gemacht. Im Gegenteil, sie hat in die Seelen der Menschen quälende Schuldgefühle gepflanzt. Ebensowenig werden die Menschen durch zwangsweise verhängte Infektionsschutzmaßnahmen gesünder. Von den Nebenwirkugen einer Impfung mal ganz abgesehen, ist allein das Übergehen der gesundheitlichen Selbstbestimmung verletzend und entwürdigend. Auch in Gesundheitsdingen muss das Prinzip der Selbstverantwortung walten. Wenn du deine Knochen bei riskanten Skimanövern riskiert, wenn du durch Bewegungsmangel Fettleibigkeit und durch eine falsche Ernährung dein Diabetesrisiko steigerst, ist das deine Sache. Was geschieht, wenn das Prinzip der Selbstverantwortung übergangen wird? Wenn du für deine Verletzbarkeit keine Veranwortung übernimmst, sondern es mir auferlegst, dass dir kein Schmerz widerfahre, dann ist damit eine klassiche psychotraumatisierende Konstellation geschaffen. Solche Konstellationen sind jedem Therapeuten wohlbekannt: Vater oder Mutter unglücklich (meist beide), das Kind merkt das, fühlt sich schuldig und widmet seine Energie fortan der Rettung der geliebten Eltern. Das Resultat ist, dass das Kind seine Eltern doch nicht retten kann, dann aber sein eigenes Leben nicht lebt. Es wird darüber tiefen Schmerz empfinden und man nur hoffen, dass es diese seelische Wunde als Erwachsener bemerkt und sich um Heilung des Schmerzes kümmert. Denn wenn es das nicht tut und selbst wieder Kinder bekommt, geht die leidvolle Geschichte in die nächste Generation über. So ansteckend sind psychische Leiden - Viren sind harmlos dagegen. Mein Schmerz ist zuerst mein Schmerz und dein Schmerz ist zuerst dein Schmerz. Wenn ich meinen Schmerz zu mir nehme und mich seiner Botschaft öffne, dann kann ich ihn überwinden. Er löst sich auf in der Wärme der Empathie und im Licht der Klarheit. Jeder kümmere sich, so gut er kann, um sich selbst und seine Bedürfnisse, körperlich und geistig-seelisch. Er mag sich dazu auch an andere wenden, die ihn dabei unterstützen, den Schmerz zu lösen und zu gesunden. Hier, aber erst hier, trage dann auch ich, wenn ich in welcher Form auch immer von dir um Hilfe gebeten werde, eine Mitverantwortung. Hier wird dein Schmerz auch zu meinem Schmerz. Kommentare sind geschlossen.
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Guido Ingendaay
Ich schreibe zu persönlichen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Themen. Die gemeinsame Perspektive ist das authentische Leben, das die Möglichkeiten innerer Entfaltung, echter Begegnung und Gemeinschaftlichkeit erforscht. Mehr zu mir finden Sie hier.
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Juli 2024
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