Bei manchen Infektionskrankheiten ist es so: Wenn ich unvorsichtig bin (oder einfach nur Pech habe), gefährde ich nicht nur mich, sondern auch andere. Mit psychischen Schmerzen ist es auch so. Warum haben wir das bloß vergessen?
Neulich - ich bin mitten in einem Gespräch - taucht dieses Gefühl in der Brust auf. Etwas, das ich gehört habe, tut mir weh. Ich bin gekränkt, merke ich. Ich will mich dagegen wehren, will es mir ausreden. So schlimm kann es doch gar nicht sein. Du hast gar keinen Grund. Doch es hilft nichts, der Schmerz bleibt. Vielleicht, so denke ich, geht er ja weg, wenn ich ja einfach auf andere Gedanken komme, Sport mache, fernsehe oder eine Nacht drüber schlafe. Kann sein, dass das funktioniert. Oder auch nicht. Manche Schmerzen gehen einfach nicht weg. Sie sind irgendwann gekommen und sind immer wieder da, manchmal ganz plötzlich. Will ich meinen Schmerz kennenlernen? Bin ich bereit, ihm - oder besser uns - etwas von meiner kostbaren Zeit zu opfern? Will ich ihm zuhören, auch wenn er zunächst eher einsilbig oder scheu auf meine Fragen antwortet? Eins ist sicher. Wenn ich mit meinem Schmerz nicht ins Gespräch komme, wird er mir dennoch Spannung verursachen und diese Spannung muss dann irgendwohin. Das ist ein Lebensgesetz: Energie steht nicht still. Auch unterdrückter und verleugneter Schmerz legt sich nicht schlafen, sondern er gräbt sich Tunnel, sickert durch, pocht, bohrt und stört. Er macht mich krank, raubt mir den Schlaf oder treibt mich in den Alkohol. Oder er schlägt durch auf dich, weil ich mir einrede, dass du an meinem Schmerz schuld bist, dass du es bist, ohne den mein Leben schmerzfrei und glücklich wäre. Ob als autoaggressiver oder nach außen projizierter Schmerz, er greift an - mich oder dich. Deswegen sind psychischen Schmerzen - von den kleinen Alltagskränkungen bis zu den biografischen Traumata - keine Privatsache. Waren es nie und können es gar nicht sein. Psychische Schmerzen wirken immer nach innen und außen. Gefühle sind hochansteckend. Die unbewusste Weitergabe unverarbeiteter Psychotraumata an ihre Kinder, denen sie bewusst beileibe nichts Böses antun wollen, sind eine harte Realität des Lebens. Transgenerationale Psychotraumata werden, wenn sie nicht aufgelöst und geheilt werden, sogar über viele Generationen hinweg das Leben der übernächsten Generationen überschatten. Wir sind als Menschen alle miteinander zu einem lebendigen Ganzen verwoben. Mein Schmerz kann ganz leicht zu deinem Schmerz werden, und dein Schmerz kann ganz leicht zu meinem werden. Was tun? Sollen wir ein Gesetz verabschieden, das es verbietet, psychischen Schmerz einfach runterzuschlucken und zu verdrängen? Das Gesetz zur Verhütung von Transmissionen verdrängter psychischer Schmerzen, kurz Transmissionsverhütungsgestz (TrVerG) genannt. Wenn sich eine solidarische Mehrheit im Parlament dafür findet, werden in Fußgängerzonen, auf öffentlichen Pätzen, in Gemeindesälen und psychotherapeutischen Praxen Bekenntniskabinen aufgestellt, in denen die Menschen einmal jährlich geschultem Personal ihr Leid offenbaren müssen, damit sie nicht zu Serienkillern werden. Natürlich müsste es dann auch vierteljährliche Boosterbeichten geben, um der zwischenmenschlichen Aggresion keine Chance zur Ausbreitung zu geben. Klingt das absurd? Wenn es um psychischen Schmerzen geht, herrscht (bei Erwachsenen) das Prinzip der Selbstverantwortung. Das ist gut so. Die Beichtpflicht der katholischen Kirche darf als gescheitert gelten; sie hat die Menschen nicht frommer gemacht. Im Gegenteil, sie hat in die Seelen der Menschen quälende Schuldgefühle gepflanzt. Ebensowenig werden die Menschen durch zwangsweise verhängte Infektionsschutzmaßnahmen gesünder. Von den Nebenwirkugen einer Impfung mal ganz abgesehen, ist allein das Übergehen der gesundheitlichen Selbstbestimmung verletzend und entwürdigend. Auch in Gesundheitsdingen muss das Prinzip der Selbstverantwortung walten. Wenn du deine Knochen bei riskanten Skimanövern riskiert, wenn du durch Bewegungsmangel Fettleibigkeit und durch eine falsche Ernährung dein Diabetesrisiko steigerst, ist das deine Sache. Was geschieht, wenn das Prinzip der Selbstverantwortung übergangen wird? Wenn du für deine Verletzbarkeit keine Veranwortung übernimmst, sondern es mir auferlegst, dass dir kein Schmerz widerfahre, dann ist damit eine klassiche psychotraumatisierende Konstellation geschaffen. Solche Konstellationen sind jedem Therapeuten wohlbekannt: Vater oder Mutter unglücklich (meist beide), das Kind merkt das, fühlt sich schuldig und widmet seine Energie fortan der Rettung der geliebten Eltern. Das Resultat ist, dass das Kind seine Eltern doch nicht retten kann, dann aber sein eigenes Leben nicht lebt. Es wird darüber tiefen Schmerz empfinden und man nur hoffen, dass es diese seelische Wunde als Erwachsener bemerkt und sich um Heilung des Schmerzes kümmert. Denn wenn es das nicht tut und selbst wieder Kinder bekommt, geht die leidvolle Geschichte in die nächste Generation über. So ansteckend sind psychische Leiden - Viren sind harmlos dagegen. Mein Schmerz ist zuerst mein Schmerz und dein Schmerz ist zuerst dein Schmerz. Wenn ich meinen Schmerz zu mir nehme und mich seiner Botschaft öffne, dann kann ich ihn überwinden. Er löst sich auf in der Wärme der Empathie und im Licht der Klarheit. Jeder kümmere sich, so gut er kann, um sich selbst und seine Bedürfnisse, körperlich und geistig-seelisch. Er mag sich dazu auch an andere wenden, die ihn dabei unterstützen, den Schmerz zu lösen und zu gesunden. Hier, aber erst hier, trage dann auch ich, wenn ich in welcher Form auch immer von dir um Hilfe gebeten werde, eine Mitverantwortung. Hier wird dein Schmerz auch zu meinem Schmerz. Bislang war dies in einer freiheitlichen Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit: Jeder Mensch hat die Freiheit, über seinen Körper selbst zu entscheiden. Was ich esse, wie ich lebe, welche Risiken ich eingehe, von wem ich mich wie ärztlich behandeln lasse - all das, ist zuallererst meine eigene Entscheidung. Wie kommt nun die Regierung dazu, mir dieses Recht nehmen zu wollen? Fremdschutz und Herdenimmunität? Das zentrale Argument lautet hier, dass die Freiheit des Einzelnen dort ende, wo die Rechte anderer berührt werden. Das klingt zunächst logisch. Schließlich darf ich im Straßenverkehr auch nicht bei Rot über die Ampel fahren, nur weil ich das gerade will. Doch dieses ethische Prinzip greift ja nur, wenn auch tatsächlich eine Fremdschädigung dadurch droht, dass ein Mensch sich nicht impfen lässt. Dies ist allerdings nicht der Fall, denn die verfügbaren Impfstoffe schützen weder vor Ansteckung noch vor Übertragung. Sie dienen allein dem Selbstschutz und können niemals dem Ziel der Herdenimmunität dienen. Der Mathematik-Professor Thomas Rießinger, der Daten aus England zum Verhältnis von Impfquote und Neuinfektionen auswertete, schreibt: "In allen Altersklassen haben die Ungeimpften einen deutlich positiven Effekt zu verzeichnen, ihr Infektionsrisiko ist durch die Bank wesentlich niedriger als das der geimpften Population." Interessanerweise hatte der Pharmakonzern Pfizer, wie die Canadian Covid Care Alliance recherchierte, die Studie zur Zulassung seines Impfstoffs überhaupt nie am Ziel einer sterilen Immmunität ausgerichtet, sondern lediglich an der Reduktion von Symptomen. Die Impfungen sollten also überhaupt nicht das Ziel des Fremdschutzes erreichen. Überlastung des Gesundheitssystems? Nun wird diesem Argument entgegengehalten, dass aber immerhin die Impfstoffe vor schweren Verläufen schützten und somit eine positive Wirkung auf die Gesundheitssituation der Gesellschaft insgesamt von ihnen ausgehe. Doch auch dieses Argument steht auf schwachen Beinen, denn die angebliche Überforderung des Gesundheitssystems und insbesondere der Intensivstationen hat nie bestanden und besteht auch jetzt nicht. Wie der Informatiker Tom Lausen anhand der Daten des DIVI-Intensivbettenregisters belegen konnte, bestand zu keinem Zeitpunkt der Pandemie eine Überlastung der Intensivstationen. Zudem sorgten Anreize der Politik dafür, dass Krankenhäuser systematisch Kapazitäten abgebaut haben, um die entsprechenden Fördergelder zu kassieren. Wo es tatsächlich punktuell zu Engpässen in der medizinischen Versorgung kam, ist dies nicht auf eine Flut durch Covid-Patienten zurückzuführen, sondern auf den bereits seit vielen Jahren bestehenden Pflegenotstand. Keine Nebenwirkungen? Weder die Wirksamkeit der Impfstoffe noch die Belastungsgrenzen unseres Gesundheitssystems sind gute Gründe für eine Impfpflicht. Wie steht es denn um die Sicherheit der Impfstoffe? Auch hier lässt sich feststellen, dass die Impfstoffe nicht halten, was seitens der Poltik versprochen wurde. Das für die Erfassung von Impfnebenwirkungen zuständige Paul-Ehrlich-Institut berichtet in seinem Sicherheitsbericht (Stand 31.12.21) von insgesamt 244576 Verdachtsmeldungen, davon rund 30000 schwerwiegenden. Das PEI führt aus, dass schwerwiegende Nebenwirkungen sehr selten seien und nicht das positive Nutzen-Risiko-Verhältnis der Impfstoffe änderten. Doch muss dabei bedacht werden, dass es eine erhebliche Untererfassung der Impfnebenwirkungen gibt. Die Abrechnungsdaten der Krankenhäuser mit den Krankenkassen (Inek) belegen für 2021 einen sprunghaften Anstieg der Behandlungen von Impfnebenwirkungen: von 1219 (2019) und 1164 (2020) auf 19619 (2022). Dabei geht es nicht um harmlose Befindlichkeitsstörungen, sondern um Erkrankungen, die eine ärztliche Behandlung erforderlich machen (Myokarditis, Embolien, Thrombosen, Lähmungserscheinungen, chronischer Migräne u. v. m.). Jüngst hat auch der (inzwischen entlassene) Vorstand der BKKProVita nach Analyse der Abrechnungsdaten der Behandlungen von Impfnebenwirkungen Alarm geschlagen und vor einer weitaus höheren Zahl von Impfnebenwirkungen gewarnt. Individuelle Entscheidung oder Fremdbestimmung Vielleicht denken Sie ja jetzt, dass ich eine einseitige Sicht auf die Dinge habe, andere Experten sicher zu anderen Schlussfolgerungen kommen und die Impfung doch auch ihre guten Seiten habe. Auf diesen Einwand würde ich entgegnen, dass Sie damit recht haben könnten. Es kann sein, dass ich die Dinge nicht differenziert genug sehe und dass ich wichtige Aspekte übersehe. Doch darin sehe ich kein grundsätzliches Problem und es widerlegt auch nicht meine Argumentation. Denn ich beanspruche nicht, die ganze Wahrheit zu sagen, sondern lediglich meine eigene Sicht darzulegen und daraus meine Schlüsse zu ziehen. Ich will das alleinige Verfügungsrecht über meinen Körper und meine Gesundheit haben. Ich will diese Covid-Impfung nicht. Ich habe mir die Sache angeschaut und mich entschieden. Die Frage ist: Tun Sie, der Sie vielleicht für die Impfung sind, nicht genau dasselbe - einfach nur Ihrer eigenen Sicht folgen? Und da die Experten der Welt über keine Frage jemals vollständig einig sind, müssen wir auch davon ausgehen, dass auch die Experten letztlich nur ihrer je eigenen Sicht gemäß denken und entscheiden. Das ist der Grund, warum die wesentlichen Lebensentscheidungen in der Hand des Einzelnen liegen müssen, denn es ist nur der Einzelne selbst, der für sich und seine Entscheidungen verantwortlich zeichnen kann. Ohne diese Freiheit zur Selbstbestimmung gibt es keine Selbstverantwortung, und ohne Selbstverantwortung verliert die Gesellschaft ihren ethischen Kompass und damit ihre Menschlichkeit. Fazit Die Impfpflicht ist sachlich nicht begründbar. Sie wird nachweislich keine Herdenimmunität fördern und sie bietet bestenfalls nicht mehr als einen Selbstschutz, wobei dieser Vorteil individuell abgewogen werden muss gegen die erheblichen Risiken von Nebenwirkungen. Gesundheitsentscheidungen müssen dem Einzelnen vorbehalten bleiben. Wenn das Parlament tatsächlich beschließen sollte, den Bürger dazu zu zwingen, sich einen experimentellen Impfstoff in den Körper spritzen zu lassen, wäre das nicht nur eine schwere Verletzung der körperlichen Unversehrtheit und der Würde des Menschen, es wäre ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Selbstkontakt Die Weichenstellung für unser Wohlbefinden und unsere Fähigkeit zur Selbstregulation geschieht durch einen Prozess, den ich Selbstkontakt nenne. Unter Selbstkontakt verstehe ich die Fähigkeit, sich umfassend und differenziert wahrzunehmen - sowohl auf der körperlichen Ebene als auch im Geistigen und Seelischen - und aus dieser Wahrnehmung heraus zu erkennen, was im Moment das Beste für uns ist. Im Gegensatz zu Tieren, die instinktiv über einen optimalen Selbstkontakt verfügen, sind wir Menschen störbar und anfällig für Disharmonien unseres Selbstkontakts. Wir haben viele Redewendungen, die dies ausdrücken, z. B. „von der Rolle sein“, „neben sich stehen“, „außer sich sein“. Störungen des Selbstkontakts äußern sich vielfältig: undeutliche, verzerrte Körperwahrnehmung, verminderte emotionale Selbstwahrnehmung, eingeschränkte Fähigkeit zur Selbstreflexion und Lösung innerer Konflikte. Generell macht uns ein gestörter Selbstkontakt anfälliger für Stress, Angst, Unsicherheit und emotionale Turbulenzen. Wenn der Selbstkontakt dauerhaft gestört ist, entsteht daraus das, was wir Selbstentfremdung nennen können. Im selbstentfremdeten Zustand können wir uns selbst nicht mehr gut spüren, uns fällt es schwer, uns zufrieden und klar zu fühlen, wir verlieren immer mehr den inneren Kompass für ein eigenständiges Leben und wir neigen dazu, schematisch einem zufällig in unserer Umgebung hochgehaltenen Lebensmuster zu folgen. Der erste Schritt zu einem authentischen und selbstbestimmten Leben im Hier und Jetzt besteht darin, den Selbstkontakt und damit auch unser Selbstvertrauen zu verbessern. Denn ohne vertrauenswürdigen Selbstkontakt werden immer dazu neigen, uns in Problemsituationen nicht an uns selbst, sondern an anderen oder vorgegebenen Bewältigungsstrategien zu orientieren. Sich spüren - hier und jetzt Es gilt, uns angesichts eines Problems nicht in die schwächenden Gefühle hineinziehen zu lassen, die immer mit gestörtem Selbstkontakt einhergehen: Selbstzweifel, Unsicherheit und Angst. Statt also zu versuchen, „das Problem“ sofort nach der üblichen (untauglichen) Methode anzugehen, nur um wieder ein weiteres Mal zu erleben, dass etwas mit uns nicht stimmt, können wir innehalten und Abstand nehmen von der direkten Problembewältigung. Wir können unseren Körper spüren, uns von ihm etwas getragen fühlen, innerlich zur Ruhe kommen und Fühlung aufnehmen mit unserer Fähigkeit, uns bewusst wahrzunehmen und zu erkennen, was hier und jetzt gerade geschieht. Es geht darum, körperlich, emotional und geistig gegenwärtig zu werden statt wie üblich der Stimme im Kopf zu vertrauen, die uns all die unlösbaren Komplikationen unseres Lebens vor Augen führt. Doch Präsenz zu entwickeln und zu praktizieren, kann mit einigen Herausforderungen einhergehen. Eine Schwierigkeit könnte darin liegen, dass es uns so fremd und seltsam vorkommt, uns überhaupt so viel Aufmerksamkeit zu schenken und nicht gleich mit der „Problemlösung“ loszulegen. Viele Menschen fühlen sich recht schnell verloren, wenn sie in ihren Körper hineinspüren, oder einem Strom von Gedanken ausgeliefert, die permanent Kommentare zum gerade Erfahrenen abgeben. Es mag auch sein, dass selbstabwertende Stimmen stärker werden uns dazu drängen, nicht so einen Blödsinn zu machen und uns doch bitte sehr nicht zu ernst zu nehmen. Bevor wir also in unsere Präsenz und damit in einen besseren Selbstkontakt kommen, müssen wir es über die Schwelle negativer Gefühle und Gedanken schaffen. Ich erkenne, was jetzt ist - und tue, was jetzt stimmt Gelingt es uns, über die verschiedenen Prozesse der Selbstsabotage hinauszugelangen, dann kommen wir in stilleres Gewässer. Hier erleben wir ganz unmittelbar, dass wir im Kontakt und Dialog mit uns selbst die anstehende Situation betrachten und Wege ihrer Erforschung und Bewältigung gehen können. Dies führt zu neuen Erfahrungen. Wir betreten Neuland. Wo die Stimme im Kopf noch drei Minuten vorher gewarnt hat, dass es zwecklos und gefährlich ist, sich anderen Menschen mitzuteilen, macht man die Erfahrung, dass es möglich ist, die eigenen Gedanken und Gefühle auszudrücken und Gehör zu finden. Wo die Überzeugung von den eigenen Defiziten zunächst wie ein tief verwurzelter Baum erschien, den man unmöglich ausreißen könne, wächst nur wenige Augenblicke später im Selbstgefühl ein Pflänzchen, das trotz seiner Unscheinbarkeit machtvoll dasteht. Es erweist sich also, dass bei aktiviertem Selbstkontakt alles bisher Erfahrene, Geglaubte und Erwartete nicht mehr gültig ist. Wenn ich meinen Körper aus der Anspannung des unbewussten Tuns herausführe und ihm einige Momente des Innehaltens und Wahrnehmens schenke, wenn ich meine Gedanken beobachte, ohne sie zu bekämpfen und mich im Kopf etwas leerlaufen lasse, wenn ich im Fühlen offen und neugierig werde - dann aktiviere ich meinen Selbstkontakt und neue Wege zeigen sich. Denn die Gegenwart ist immer offen. Wir meinen, das Leben zu kennen, wir meinen vor allem uns selbst und unsere Lebensmöglichkeiten zu kennen. Doch das ist ein Irrtum. Wir kennen uns sehr wenig und wir kennen das Leben sehr wenig. Wir haben gerade einmal einen kleinen Schluck aus einem Meer voller Möglichkeiten zu uns genommen. Konflikte gehören zum Leben. Sie scheinen unvermeidlich zu sein angesichts der Unterschiedlichkeit der Menschen. Was ich will und brauche, ist nicht immer deckungsgleich mit dem, was du willst und brauchst. Wo es Regeln gibt, lassen sich Konflikte vermeiden. Im Straßenverkehr zum Beispiel. Ein Konflikt zwischen Fahrer A und Fahrer B wird nach festen Regeln gelöst. Muss sich dann nur jeder an die Regeln halten, was bekanntlich nicht immer gelingt. Die meisten Konflikte lassen sich aber nicht über Regeln lösen. Vor allem die zwischenmenschlichen Konflikte brauchen eine Offenheit für die besondere Situation, ein aktives Miteinander-Sprechen, Einander-Zuhören, ein Miteinander-Denken-und-Fühlen. Dieser Prozess lässt sich nicht in Regeln erfassen. Er ist zu vielschichtig und kann nur mit Präsenz, Einsicht und Intuition bewältigt werden.
Die Frage ist, ob wir die Tatsache anerkennen, dass Konflikte, die ungelöst bleiben, nicht einfach dadurch verschwinden, dass wir uns mit ihnen nicht mehr beschäftigen. Vielleicht hat sich A gegenüber B durchgesetzt und für ihn ist der Fall damit erledigt. Für B aber nicht und deswegen geht der Konflikt in veränderter Gestalt weiter. Wenn Konflikte ungelöst bleiben, wirken sie weiter. Es ist deswegen wichtig, zu verstehen, wie wir Konflikte lösen können. Der erste Schritt auf dem Weg zur Lösung ist die Klärung. Ein unklarer Konflikt kann nicht gelöst werden (außer durch Zufall oder Fügung). Was bedeutet Klärung? Der Konflikt erscheint auf den ersten Blick immer etwas anders, als er von seinem Wesen her ist. Das berühmte Beispiel aus der Partnerschaft ist der Streit um die Zahnpastatube: Ist es richtig, sie von hinten auszudrücken? Oder ist es erlaubt, sie von egal wo auszudrücken? Diese Sachfrage ist natürlich verbunden mit Beziehungsfragen: Wer darf hier wem sagen, was er tun soll? Wie kommen wir zusammen, wenn wir nun mal unterschiedlich sind? Könnte ich mich von meiner Position abbringen lassen und wie gefährlich wird das für mich, dir gegenüber nachzugeben – bin ich dann in deinen Augen nicht mehr so viel wert? Diese Beziehungsfragen sind nun nicht mehr so harmlos wie die Frage nach der Zahnpastatube. Es sind essentielle Fragen des menschlichen Lebens. Wenn es uns nicht gelingt, auf diese Fragen eine Antwort zu finden, die uns beiden gerecht wird, dann werden wir es nicht schaffen, die Sache mit der Zahnpastatube klar zu kriegen. Dies ist eine Gesetzmäßigkeit: Beziehungskonflikt sticht Sachkonflikt. Wenn wir den Beziehuhgskonflikt nicht lösen können, dann kommen wir unter keinen Umständen an den Sachkonflikt heran. Umgekehrt geht das schon. Wenn der Sachkonflikt ungelöst bleibt, ist es durchaus möglich, unseren Beziehungskonflikt zu lösen. Wenn wir die relative Vorrangigkeit des Beziehungskonflikts erst einmal verstehen, dann hören wir auf, uns immer wieder auf die Sachthemen zu stürzen. Denn wir werden spüren, dass dieses Sprechen über die Sachebene ein Ausweichen ist, getragen von der Furcht, den Beziehungskonflikt anzugehen. Wir haben Konflikte nicht nur im alltäglichen privaten und beruflichen Leben, wo sie uns möglicherweise lösbar erscheinen mögen. Wir erleben auch Konflikte von großem Umfang. Groß deshalb, weil dort nicht einzelne Personen, sondern jeweils viele Menschen in großen Gruppen daran beteiligt sind: Parteien, Konzerne, Regierungen, Armeen, Gewerksschaften, Lobbygruppen, Bürgervereinigungen, die ganze Gesellschaft. Die Szenerie ist unüberschaubar. Wer hat mit wem eigentlich hier einen Konflikt? Worin besteht dieser Konflikt eigentlich? Worum geht es im Kern? Diese Fragen können nicht beantwortet werden, wenn die tieferliegenden Beziehungsfragen nicht angegangen werden. Wenn zum Beispiel Menschen einander nicht mehr vertrauen können, wie sollen sie dann einen Konflikt gemeinsam lösen können? Wenn eine Gruppe vor einer anderen Gruppe Angst hat und misstrauisch ist, wie können wir dann erwarten, in der Sache weiterzukommen? Es ist an der Zeit, dass wir uns darum bemühen, die Beziehungsfragen offen anzusprechen und ihre Wirkmächtigkeit anzuerkennen. Im Privatleben, im Beruf, in der Politik, in der Gesellschaft. Wenn wir dieses Tabu nicht auflösen, werden wir die Konflikte nicht lösen können. Eine Gesellschaft, die nicht fähig ist, Konflikte zu lösen, ist jedoch dazu verurteilt, immer gewalttätiger und autoritärer zu werden. Wenn die eigentlichen Ursachen für die Konflikte, die wir miteinander haben, nicht wahrgenommen werden, wird die Spaltung der Gesellschaft weitergehen. Ein Konflikt verschwindet nicht, wenn wir ihn nicht lösen. Wir spüren ja tagtäglich die Folgen ungelöster Konflikte – unserer eigenen und der vielen, vielen ungelösten Konflikte der Vergangenheit, die unsere Vorfahren nicht zu lösen vermochten. Es ist an der Zeit, über unsere Konfliktkultur neu nachzudenken und Neues auszuprobieren. Fangen Sie am besten heute damit an, Ihre Konflikte anzuschauen. Erst die Beziehungsebene, dann die Sachebene. Und dann kommen Sie darüber ins Gespräch. Und wenn es Ihnen nicht gelingt, den Konflikt zu lösen, so können Sie ihn doch wenigstens klären, d. h. relative Klarheit darüber herstellen, worum es dabei geht, sowohl auf der Beziehungs- als auch der Sachebene. Das ist der erste Schritt. Und vielleicht können Sie ja demnächst wieder darüber ins Gespräch kommen – und dann zeigt sich Ihnen und Ihrem Gegenüber, wie sich der Knoten auflösen lässt und Sie beide gemeinsam weiter gehen könnten. Stellen Sie sich vor, eine Gruppe von 30 Menschen kommt zusammen. Sie lassen sie über ein aktuelles politisches Thema diskutieren. Es geht heiß her - die Wortfetzen fliegen. Nach einer Weile schält sich aber so etwas wie eine Mehrheitsmeinung heraus, von der einige wenige Menschen abweichen. Die Mehrheit beschließt nun im Gefühl gerechter Empörung, die Abweichler auszuschließen: "Wir wollen mit euch nichts zu tun haben, denn alles was wir sagt verletzt unsere Werte und Einstellungen!" Die Abweichler haben keine Chance, sie müssen gehen und lassen 25 Menschen zurück, die sich sicher sind, richtig gehandelt zu haben. Was geschieht daraufhin in dem Raum mit den verbliebenen 25 Menschen? Die Menschen dieser Gruppe werden nach einem anfänglichen Gefühl der Einigkeit ("Denen haben wir es gezeigt!") merken, dass sie durchaus nicht in allen Dingen einer Meinung sind. Alle möglichen Unterschiede, Gegensätzlichkeiten, Missverständnisse und Konflikte werden auftauchen. Und falls es zu einer großen Debatte kommt, wird sich wieder eine Mehrheitsmeinung und (mindestens) eine abweichende Meinung herausbilden. Dann könnten auch diese Abweichler ausgeschlossen und somit wieder die Mehrheitsmeinung als die einzig richtige Meinung etabliert werden. Dieser Prozess würde nun immer so weiter gehen, bis die anfänglich große Gruppe in kleine untereinander zerstrittene Untergruppen fragmentiert ist.
Ausgrenzung funktioniert nicht, denn sie führt dazu, dass eine wesentliche kreative Funktion einer Gemeinschaft - die spontane Diversifikation der Sichtweisen und das Entstehen produktiver Konflikte - unterdrückt und ein Zwang zur Anpassung etabliert wird. Überall dort, wo Minderheitenmeinungen abgewertet und ausgegrenzt werden, geschieht nichts weiter als eine Verleugnung der Realität. Ein Problem, über das nicht mehr kontovers und achtungsvoll (d. h. ohne Androhung von Aussschluss aus der Gemeinschaft) diskutiert wird, wird vom Machtkampf verdrängt und bleibt somit ungelöst. Was für kleine Gruppen gilt, ist auch auf die Gesellschaft anwendbar. Unsere Gesellschaft ist gespalten in Bezug auf das Thema der Pandemie und der Corona-Maßnahmen. Diese Spaltung kann nicht dadurch überwunden werden, dass Mehrheiten sich darüber verständigen, Minderheiten auszugrenzen. Freie Meinungsäußerung und die volle meinungsunabhänige Teilhabe am gesellschaftlchen Leben sind wesentlich für den Erhalt einer Gesellschaft. Sind Sie damit einverstanden sind, dass Menschen, die in der Corona-Thematik anderer Meinung sind als Sie, an freier Meinungsäußerung oder der Ausübung ihres Berufes gehindert werden? Sind Sie damit einverstanden, dass Ungeimpfte in Zukunft vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden sollten? Denken Sie gut darüber nach. Jede Mehrheit braucht die Minderheit. Um Einigkeit zu erlangen, sind die Uneinigen notwendig. |
Guido Ingendaay
Ich schreibe zu persönlichen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Themen. Die gemeinsame Perspektive ist das authentische Leben, das die Möglichkeiten innerer Entfaltung, echter Begegnung und Gemeinschaftlichkeit erforscht. Mehr zu mir finden Sie hier.
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November 2024
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